Cinema of Care und mehr: Querschnitt durch das Werk von Ann Hui

Gerhard Midding
FALTER:Woche, FALTER:Woche 9/2023 vom 01.03.2023

Voller Hingabe weiht Lam Yiu-Kwok seine Schulklasse in die Freuden des Lesens ein. Aber so lebhaft und unkonventionell er seinen Unterricht auch gestalten mag, ist er doch ein Auslaufmodell: ein Mensch, der das Vergangene bewahren möchte. Fast darf man ihn als eine Allegorie auf Hongkong betrachten, das seit fünf Jahren keine britische Kronkolonie mehr ist. Eine gebrochene Nostalgie ist in "July Rhapsody" von 2002 unübersehbar: In einem Klassenzimmer hängt noch ein Schild mit der Aufschrift "Please teach in English!"

Der Lehrer ist einer jener Alltagshelden, über die man sonst nie Filme macht, denen aber die zugeneigte Aufmerksamkeit Ann Huis gilt: Sie sind Stützen der Gesellschaft, die beharrlich an ihren mühevollen, auszehrenden Berufen festhalten oder sich der Pflege von Angehörigen widmen. Auf diese Regisseurin trifft das aktuelle Modewort vom "Cinema of Care" unbedingt zu. Sie arbeitet seit Jahrzehnten daran; Filme wie "Summer Snow" (1995) und "A Simple Life" (2011) schließen direkt aneinander an. Damit wird man der Vielseitigkeit ihres Werkes jedoch nur ansatzweise gerecht. Das Motiv der kulturellen Entwurzelung und nationalen Identität, das sich seit "Boat People" (1982) regelmäßig in ihrem Schaffen niederschlägt, ist ein Lebensthema für Ann Hui, die in der Mandschurei als Tochter eines Chinesen und einer Japanerin geboren wurde. Im Kino debütiert sie 1979, als sich in Hongkong die Neue Welle Bahn bricht. Dreht man die letzten beiden Zahlen um, landet man im Schicksalsjahr ihrer Heimatstadt, deren Status plötzlich ungewiss wird. Fortan wird die Diaspora zu einem zentralen Handlungselement ihres Kinos.

Auch damit sind noch längst nicht alle Register genannt, die sie zu ziehen vermag. Polizeifilme gehören ebenso dazu wie Komödien und historische Panoramen. Sagen wir es einmal so: Im Titel ihres legendären Kostümepos "The Romance of Book and Sword"(1987) stecken gleich drei Genres - und jedes dieser Versprechen erfüllt es in schönster Weise.

Ordinary Heroes: bis 29.4. im Filmmuseum. Eröffnung am 2.3. in Anwesenheit von Regisseurin Ann Hui

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