„In zwei, drei Sätzen? Unmöglich“

Ein neuer Film porträtiert Lars Eidinger. Der deutsche Schauspieler im Gespräch über seine DJ-Tätigkeit, echte Tränen, falsche Vorwürfe und den Abschied vom „Jedermann“

Sabina Zeithammer
FALTER:WOCHE, FALTER 11/23 vom 14.03.2023

Foto: Filmladen

Lars Eidinger zählt zu den begabtesten deutschen Schauspielern der Gegenwart. Sein Handwerk, seine Leidenschaft, sein Ego, seine Unsicherheiten und Fehltritte stehen im Zentrum von „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“, einem vielschichtigen Dokuporträt von Reiner Holzemer. Der Falter traf Eidinger, 47, in Wien zum Gespräch. Ob der Ex-„Jedermann“ den freundlichen Interviewpartner dabei nur gespielt hat, ist irrelevant, wie er schlüssig erklärte.

Falter: Herr Eidinger, Sie sind gerade für Dreharbeiten in Wien und hatten nebenbei auch ein DJ-Engagement. Tanzen Sie gern auf mehreren Partys gleichzeitig?


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Lars Eidinger: Die Musik war schon vor der Schauspielerei da. Mit 20 habe ich eine Platte veröffentlicht, aufgenommen im Keller meines Elternhauses. Zu der Zeit fing ich auch an, in Clubs und Bars aufzulegen. Ich habe also eher daran festgehalten als Leidenschaft neben der Schauspielerei.

Machen Sie es heute rein zum Spaß? Die DJ-Gage wird ja kaum der Anreiz sein?

Eidinger: Ich bin in der privilegierten Situation, mir über Geld keine Gedanken machen zu müssen. Ich habe in meinem Leben auch noch nie etwas nur um des Geldes willen gemacht. Beim Kinderfernsehen habe ich als Zehnjähriger 150 D-Mark pro Drehtag bekommen, ich hatte also immer schon Geld. Noch als Student hatte ich mein erstes Engagement am Berliner Renaissance-Theater. 200 D-Mark pro Vorstellung. Mit dem Geld konnte ich von zuhause ausziehen und meine erste eigene Wohnung mieten. Lege ich jetzt bei einer Party in der Roten Bar des Volkstheaters auf, mache ich das tatsächlich aus reinem Hedonismus.

Was gefällt Ihnen daran so sehr?

Eidinger: Der Hauptanreiz solcher Partys ist, dass sich Zeit und Raum auflösen. „Vielleicht ist Musik dann doch ein besserer Ort als die Welt“, meinten Daft Punk einmal. Es geht um Euphorie und Verschmelzung, um Einswerdung, darum, sich im Kollektiv aufzulösen.

Nervt es Sie da nicht, wenn Fans bei Partys um Selfies bitten?

Eidinger: Unangenehm finde ich dabei nur den Moment, mich kurz auf dem Display selbst sehen zu müssen. Es gibt einen sehr berühmten Nachtclub in Berlin, der keine Spiegel hat, nicht einmal auf der Toilette. Ich denke, das hat er aus einem guten Grund nicht. Würde man sich nicht ständig spiegeln, wäre man dauerhaft glücklicher.

Interessante Aussage für einen omnipräsenten Leinwand- und Bühnenstar, dem jetzt auch eine eigene Filmdoku gewidmet ist. Wie kam es denn zu „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“?

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Eidinger: Reiner Holzemer hat über meine Agentur Kontakt zu mir aufgenommen, ich habe mir daraufhin seine Filme angeschaut und Vertrauen gefasst. Welches Wagnis das war, wurde mir erst bewusst, als der Film fertig war. Was, wenn er mir nicht entspricht oder gerecht wird? Tatsächlich habe ich ihn so abgenommen, wie Reiner ihn geschnitten hat. Ich finde ihn sehr gelungen und hatte keinerlei Änderungswünsche.

Sie haben das Ergebnis dann also ohne Bauchweh gesehen?

Eidinger: Es ist ihm sehr gut gelungen, mich zu zeigen. Vor allem ist es keine Lobhudelei geworden, was mir wichtig war. Der Film zeigt mich in meiner Angreifbarkeit und Widersprüchlichkeit und ist keine Verklärung oder Idealisierung meiner Person.

In einer Szene kommt es zwischen Ihnen und Regisseur Michael Sturminger während der „Jedermann“-Proben zu einem heftigen Streit, weil er mit einer anderen Person aus dem Team redet, als Sie gerade sehr emotional spielen und weinen. Ein gefundenes Fressen für jeden Dokumentarfilmer also. Hatten Sie da vergessen, dass ein Filmteam anwesend ist? Oder war es Ihnen einfach egal, dass das jetzt mitgefilmt wird?

Eidinger: Ich halte es für eine Mär, dass ein guter Dokumentarfilmer irgendwann unsichtbar wird. Ich war mir Reiners Kamera zu jedem Zeitpunkt bewusst. Ich vergesse mich auch nicht in so einem Moment. Ich werde zwar emotional, aber ich werde auch in dem Bewusstsein emotional, dass ich dabei gefilmt werde. Womöglich hätte dieser Moment so ohne Kamera gar nicht stattgefunden. Es war vor allem die Kränkung darüber, dass Michael Sturminger kein Bewusstsein dafür hatte, dass ich ihn als Gegenüber zwingend brauche.

Was hat es mit dem Untertitel des Films auf sich, „Sein oder nicht sein“?

Eidinger: Mir war es wichtig, dass ich als Mensch mit Fehlern und Widersprüchen zu sehen bin. Im besten Fall zeigt der Film eine Persönlichkeit in all ihrer Komplexität, daher der Untertitel. Gemeint ist auch die vermeintliche Diskrepanz zwischen Realität und Fiktion. Es gibt ein südamerikanisches Volk, das legt die Priorität auf das Unterbewusstsein; die Realität, der Alltag, sagt es, sei nur dazu da, die Träume anzureichern, denn im Traum fände das eigentliche Leben statt. Ganz ähnlich verstehe ich die Schauspielerei. Der spielerische Moment ist für mich im Grunde viel wertvoller und auch wahrhaftiger als das Alltägliche. Oder wie Fassbinder sagt: „Vielleicht ist das Leben eine größere Lüge als der Film.“

Dazu passt eine Szene der Doku: 2020 haben Sie auf einer Pressekonferenz der Berlinale geweint, als Sie über die von Hass und Missgunst geprägte Gesellschaft gesprochen haben. Das seien Krokodilstränen eines weißen Cis-Mannes gewesen, wurde Ihnen vorgeworfen. Tatsächlich stellt sich bei öffentlichen Auftritten eines Schauspielers ja immer die Frage, ob er nur spielt, berührt zu sein.

Eidinger: Also erst einmal waren das echte Tränen, und es war auch nicht gespielt. Es ist völlig abstrus, das Gegenteil zu vermuten. Trotzdem stört mich daran das Wort „nur“. „Alles ist nur Theater und ist doch auch Wirklichkeit“, singt Katja Ebstein im Lied „Theater“. Ich habe als Schauspieler immer den Anspruch an einen gewissen Grad an Aufrichtigkeit. Bin ich auf der Bühne oder im Film emotional, entspricht das trotzdem meiner Wirklichkeit. Weil ich es auch wirklich empfinde. Ich bin dann wirklich traurig oder verzweifelt, und das provoziert echte Tränen. Vielleicht habe ich im spielerischen Moment sogar einen besseren Zugang zu meiner Emotionalität als im Alltag.

Sie saßen als Lars Eidinger bei dieser Pressekonferenz, Sie verkörperten dort keine Rolle.

Eidinger: Doch, jene des Schauspielers auf der Pressekonferenz.

Dann ist aber immer alles eine Rolle.

Eidinger: Genau, so würde ich das auch beschreiben. Ich denke dabei an den berühmten Zwiebelmonolog in Ibsens „Peer Gynt“: Peer vergleicht sich mit einer Zwiebel, deren Schichten die unterschiedlichen Facetten oder eben Schichten der Persönlichkeit darstellen. Er fragt sich: Was ist der Kern? Aber da ist nichts. Nur Schichten und Schichten.

Sie sind also auch als Ehemann oder Vater in einer Rolle?

Eidinger: Natürlich. Nur klingt das leider immer abwertend. Ich sehe das anders. Es ist die Rolle, die Schicht des Vaters. Ich bin die Schicht des Ehemanns. In diesem Moment bin ich in der Rolle des Interviewpartners, aber diese Rolle ist trotzdem die Wirklichkeit. Interessant an dieser Pressekonferenz mit den Tränen ist, dass nur dieser emotionale Ausschnitt kursiert. Niemand schaut sich die Frage an, die mir gestellt wurde, oder zumindest die ganze Antwort.

Überrascht Sie das denn?

Eidinger: Wenigstens die ganze Antwort zu kennen würde schon erklären, wo meine Emotionalität herkam. Ich habe damals von Stefan Zweig erzählt, der nach dem Ersten Weltkrieg ein Medium angeregt hatte, das sich der Liebe verschreibt und gegen Hass und die moralische Vergiftung Europas eintritt. Ein Medium, das laut Zweig in alle Sprachen übersetzt werden müsse. Mit dem Internet haben wir heute genau das. Doch wofür benutzen wir das Internet, also die sozialen Medien? Für Hass und Missgunst. Das hat mich im Kontext der ganzen Antwort, die beim Thema „Rollenangebote mit nationalsozialistischem Hintergrund“ und damit zusammenhängend meiner eigenen Familiengeschichte begonnen hatte, so sehr emotionalisiert, dass ich geweint habe.

Der Film spricht auch die Aufregung um eine von Ihnen designte 550-Euro-Ledertasche im Diskonter-Look an, mit der Sie vor einem Obdachlosenlager posiert haben. Daraus resultierte ein veritabler Shitstorm. Wie würden Sie diese unselige Geschichte rückblickend in zwei, drei Sätzen zusammenfassen? Im Film bleibt es ein Stück weit offen.

Eidinger: In zwei, drei Sätzen? Unmöglich. Die ganze Geschichte würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Unsere Zeit krankt auch daran, dass man stets aufgefordert ist, in kurzen Statements zu antworten und den Debatten nicht den Raum einzuräumen, den sie beanspruchen.

Sie spielen sehr stark mit Ihrem Körper, vor allem im Theater, und sind oft wenig bekleidet zu sehen. Kümmern Sie sich gut um Ihren Körper?

Eidinger: Kümmern?

Ja. Trainieren Sie?

Eidinger: Nein, ich war noch nie in einem Fitnessstudio und nur ein einziges Mal in meinem Leben joggen. Das war mit Birgit Minichmayr, als wir den Film „Alle anderen“ gedreht haben. Ich glaube, meine Konstitution rührt einfach daher, dass ich als Jugendlicher viel Fußball und fast leistungssportmäßig Tennis gespielt habe.

Bei uns wurde zuletzt recht intensiv diskutiert, dass es eine Theaterkrise gebe, weil es teilweise zu kopflastig sei. Das Theater, für das Sie bekannt sind, ist sehr körperlich, wenn Sie etwa in „Hamlet“ vornüber in einen Erdhaufen kippen. Wie denken Sie über die Zukunft des Theaters?

Eidinger: Ich glaube, das Theater ist der Dinosaurier unter den Medien. Man täuscht sich ja, wenn man denkt, seit Anbeginn der Erde hätte es eine kurze Zeit der Dinosaurier gegeben und dann kamen die Menschen. Eigentlich ist es genau umgekehrt. Dinosaurier hat es immer gegeben und am Ende einen minimalen Bruchteil lang die Menschheit. So verhält es sich mit dem Theater im Verhältnis zu anderen Medien auch.

Was ist das Geheimnis des Theaters?

Eidinger: Der große Trumpf des Theaters ist die Unmittelbarkeit, und es kultiviert die Endlichkeit, weil es ums Loslassen geht und nicht wie beim Film etwa ums Festhalten. Das Theater als ein Memento mori. Und es untersucht das Phänomen der Präsenz, des Daseins.

Wie meinen Sie das?

Eidinger: Wenn ich im Theater improvisiere und mit dem Publikum interagiere, schaffe ich ein Bewusstsein von Anwesenheit. Während ich im Film etwas für ein Publikum in der Zukunft spiele, auf dessen Reaktionen ich keinen Einfluss mehr habe, ist es im Theater ein Miteinander. Die Spielenden haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Zusehenden und umgekehrt. Es ist im besten Sinne Unterhaltung, also Kommunikation.

Der Fokus von „Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“ liegt auf Ihren diversen Theaterengagements, im Zentrum steht der „Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen. Sie haben die Titelrolle zwei Saisonen lang gespielt, und dann hat Sie’s nicht mehr gefreut?

Eidinger: Hat’s mich nicht – was?

Nicht mehr gefreut.

Eidinger: Verstehe, in Deutschland sagt man das so nicht. Das gefällt mir. Das muss ich mir merken! So einfach ist es allerdings nicht. Ich habe diese Veranstaltung geliebt und jede einzelne Vorstellung genossen. Aber erstmal tue ich mich generell mit langfristigen Verträgen schwer. Ich bin seit 23 Jahren festes Ensemblemitglied der Schaubühne, verlängere meinen Vertrag aber aus Prinzip immer nur um ein Jahr. Ich wollte den „Jedermann“ ursprünglich auch nur ein Jahr spielen, aber dann kam die Pandemie mit ihren Restriktionen. Ein wichtiger Grund, das Engagement nicht zu verlängern, war schlicht, dass ich in den 16 Jahren, die meine Tochter auf der Welt ist, kein einziges Mal die kompletten sechs Wochen Schulferien frei hatte. Meine Tochter fährt, wenn wir Glück haben, vielleicht noch zwei Jahre mit uns in den Urlaub. Das wollte ich erleben.

Kennt man Sie nur aus der Doku, nimmt man Sie weit mehr als Theater- denn als Filmschauspieler wahr. Dabei waren Sie bereits in fast 80 Filmen und Serien zu sehen. Sind Sie auch dem Selbstverständnis nach mehr ein Theater- denn ein Filmschauspieler?

Eidinger: Als ich an der Schaubühne „Peer Gynt“ gespielt habe, hat sich meine Kollegin Marina Galic eine Vorstellung angesehen. Danach kam sie zu mir und meinte: „Ich sehe ab und zu, was du im Fernsehen oder Kino machst. Und ich wollte dir nur sagen, das, was du im Theater machst, ist einfach eine Million Mal mehr.“ Das fand ich schon interessant. Und auch ein schönes Kompliment.

Sie haben schon so viele Rollen über Leben und Sterben gespielt. Nimmt man da automatisch etwas fürs eigene Leben mit?

Eidinger: Ich habe begriffen, dass der Tod nicht am Ende des Lebens auf einen wartet, sondern einen ständig begleitet. ­Jeder ­Moment, der vergeht, ist tot. Aber das macht auch die Schönheit des Lebens aus, dass es nur durch den Tod seinen Wert erfährt. Das meinte ich zuvor auch mit der Schönheit des Theaters: Jeder ­Moment, der stattfindet, ist auch in dem Moment gestorben. Das ist sozusagen der morbide Charme ­daran. F


Lars Eidinger (*1976 in Berlin) besuchte die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und ist seit dem Jahr 2000 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Auch mit Rollen für Kino und TV sowie als DJ machte er sich einen Namen. Er lebt mit seiner Frau, der Sopranistin Ulrike Eidinger, und seiner Tochter in Berlin

„Lars Eidinger – Sein oder nicht sein“: Ab 24. März in den Kinos

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