"Wir haben jeden Tag ein neues Problem"
Apotheken und Ärzten gehen Antibiotika und andere Medikamente aus - vor allem für Kinder. Wie konnte das passieren?

Foto: APA/Barbara Gindl
Ein typischer Montag beginnt für Nicole Grois mit dem Griff zum Hörer. Nicht um Termine mit Patienten auszumachen, sondern um die Apotheken der Stadt anzurufen. "Wir haben jeden Tag ein neues Problem", meint die Kinderärztin. Denn die Liste verfügbarer Arzneien wird kürzer. Nicht nur in der Ordination in Wien-Alsergrund.
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Die Medikamente fehlen für die Kleinsten: Sultanol, Ospen, Nureflex. Also Mittel gegen Bronchitis, Antibiotika gegen Infektionen, Schmerzmittel fürs Fieber, vor allem in Saftform - Tabletten schlucken die wenigsten, Zäpfchen gibt es für Antibiotika nicht.
Dabei warnen Experten schon seit Herbst, dass es zu Engpässen kommen könnte, dass manche Wirkstoffe nicht in den notwendigen Mengen lagern. 23.000 Packungen Rückstand stehen auf den Listen der Apotheken. Viele davon im Kinderbereich. 1257 Arzneispezialitäten, die nicht oder nicht ausreichend verfügbar sind, listete das Bundesamt für Sicherheitswesen und Gesundheit 2022. Ein Rekord. Wie konnte es dazu kommen? Und warum hat es niemand verhindert?
Dafür muss man ein Jahr zurückblicken: Corona beherrschte das Land, die Lieferketten litten und tun es bis heute: 80 bis 90 Prozent der Antibiotika kommen aus China und Indien - schließlich lassen sie sich dort billiger produzieren. Und weil vor allem China bis vor kurzem selbst noch mit einer großen Corona-Welle kämpfte, fehlt es nun an Verpackungsmaterial und Wirkstoffen. Dazu kommt, dass viele Österreicher in Pandemiezeiten das Horten lernten: Statt Klopapier lagern nun Medikamente im Schrank.
Anfang des Jahres dann die große Infektionswelle: RSV- und Influenzaviren, dazu Bakterien, die die oberen Luftwege befielen - und entsprechend behandelt werden mussten. Ein solches Infektionsgeschehen sei nicht abzusehen gewesen, meint Alexander Herzog, Chef der Pharmig, die die Interessen der Pharmaindustrie im Land vertritt. Um mehr als 125 Prozent stieg die Nachfrage nach Antibiotika von Dezember 2021 auf 2022. Bei Kindersäften wie dem Antibiotikum Ospen war es sogar ein Plus von 377 Prozent.
Gerade sind es die Streptokokken, die den Kindern Angina bescheren. Man behandelt sie am besten mit Ospen-Saft, zehn Tage lang. Schon vor sechs Wochen ist er ausgegangen, also blieb Plan B: auf ein anderes Antibiotikum wie Cephalosporin umsteigen, das weniger wirkt und manchmal Resistenzen auslöst. Tage später ging es manchen Patienten wieder schlechter, erzählt Daniela Karall, Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde. Einige Kollegen wählen also Plan C, baten Apotheker, Tabletten für Erwachsene im Mörser auf Kinderdosis zu bringen.
Die Präsidentin der Apothekerkammer, Ulrike Mursch-Edlmayer, will Rohstoffe aus dem Ausland bestellen, fehlende Mittel selbst herstellen. Das würde die Engpässe nicht beheben, aber die Situation abfedern. Das Gesundheitsministerium ist dagegen: Schließlich fehlt dafür eine gesetzliche Grundlage, etwa um die Wirkstoffe auf ihre Reinheit zu prüfen. Wer also trägt die Verantwortung?
Der Falter bekam weniger Antworten als Beruhigungen: Die Lage sei ernst, doch noch könne man ausweichen. Vor allem, weil Ärzte sich selbst helfen: Der Wiener Kinderarzt Christoph Male stellte eine Liste mit Alternativen zusammen, die ÖGKJ schickt diese an ihre Mitglieder. Der pharmazeutische Großhandel wünscht sich eine Inflationsanpassung der Arzneimittelpreise sowie eine Diskussion über die Produktion innerhalb der EU. Aus dem Gesundheitsministerium heißt es, es gebe "Gespräche mit dem pharmazeutischen Großhandel und den Arzneimittelhersteller:innen" über die Erhöhung von Reserven. Auch sei es gelungen, für März Medikamentenlieferungen, auch für Antibiotikasäfte, sicherzustellen. Wie viel? "So, dass es sich ausgeht", heißt es vage.
Und die Kinderärztin Grois? "Es geht nicht darum, einen Schuldigen zu finden", meint sie. "Aber wir fühlen uns schlecht informiert." Immerhin: Apotheken haben angefangen, die Listen mit dem Verfügbaren von selbst zu verschicken.