Vom Kleinen zum Großen

Peter Iwaniewicz summt den Song „What a Wonderful World“

Natur, FALTER 13/2023 vom 29.03.2023

Zeichnung: Georg Feierfeil

Ich bin ein Warmduscher. Auch wenn dieser Begriff im Sprachgebrauch negativ besetzt ist, möchte ich diese kontemplative Zeit unter einer warmen Brause nicht missen. Ich habe dort in der reinigungsfreien Phase die Muße, über manche Dinge nachzudenken, die scheinbar klein und bedeutungslos sind. So wie das winzige Insekt, das ich in einem schmalen Spalt der Fugenmasse zwischen den Badezimmerfliesen entdeckt habe. Trotz Duschwasser in den Augen konnte ich dieses nur 1,5 Millimeter große Lebewesen als Beintastler aka Protura bestimmen. Über die Stellung dieses zeitlebens flügellosen Insekts in der Systematik wird noch gestritten, weswegen sie auch mit Silberfischchen und Springschwänzen in der diffusen Gruppe der "Urinsekten" (Achtung bei der Silbentrennung) genannt werden.

Erster Gedanke: Wie kommt ein Tier aus dem Lückensystem des Bodens in eine Wiener Wohnung? Vermutlich habe ich den Beintastler von einer Waldexkursion unwissentlich mitgebracht, und er fand in dem ebenfalls feuchten Sanitärraum ebenso wie im Erdreich kleine Algen und Pilzfäden als Nahrung.

Zweiter Gedanke: Gefällt ihm seine Übersiedlung vom Land in die Stadt? In Studien findet man zur Wirkung von Urbanisierung auf Zahl und Häufigkeit von Insekten meist widersprüchliche Aussagen. Interessant sind dabei die Gründe dafür: Denn oft werden nur bestimmte Insektengruppen wie Käfer oder Bienen untersucht und andere wie Fliegen und Heuschrecken nicht berücksichtigt. Es gibt auch keine einheitliche Definition von Urbanisierung. Stadtlandschaften sind uneinheitliche, dreidimensionale Mosaike verschiedener Lebensräume, die sich nur schwer mit den großflächigeren, homogeneren Biotopen in Naturzonen vergleichen lassen. Und viele dieser Studien erhoben Daten nur für eine Saison, wodurch die jahreszeitliche Dynamik nicht berücksichtigt wird. So beschleunigt zum Beispiel das Phänomen der städtischen Wärmeinseln die Frühlingsblüte und bewirkt damit das frühere Erscheinen bestäubender Insekten in Städten im Vergleich zu ländlichen Gebieten.

Dritter Gedanke: Warum ist die Naturwissenschaft so desinteressiert an manchen Tierarten wie an dieser unscheinbaren, aber weltweit verbreiteten Insektenordnung der Protura? Charles Darwin schrieb am 28. Februar 1832 in sein Tagebuch über seine Eindrücke im brasilianischen Regenwald: "Der Geist ist ein Chaos der Freude, aus dem eine Welt der Zukunft und stilleres Vergnügen entstehen wird." Ich gehe jetzt duschen!

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