Tanz mit Lust am Exzess
Die Choreografin und Performerin Florentina Holzinger kommt mit ihrem neuen Stück „Ophelia’s Got Talent“ ins Volkstheater. Ein Gespräch über das Matriarchat, nackte Haut, schmutzige Fantasien, die Theaterkrise und den Reiz des Extremen

„Erfolg zu haben heißt nicht zwangsläufig, dass man konventionell wird“, betont Florentina Holzinger (Foto: Heribert Corn)
Sex und Gewalt: Auf diese plakative Formel wird Florentina Holzingers Arbeit oft gebracht. Das ist nicht ganz falsch, greift aber viel zu kurz. Die 37-jährige Wiener Choreografin und Performerin steht auch für Poesie und Humor, lustvolle feministische Sichtungen der Theater- und Tanzgeschichte, Reflexion und Denkanstöße; kurz: für aufregend-knallige Bühnenspektakel mit reichlich Tiefgang.
Das neue Stück „Ophelia’s Got Talent“ ist als Kooperation von Tanzquartier und Volksbühne Berlin entstanden; in Wien läuft es nun am Volkstheater. Wie in der Erfolgsproduktion „Tanz“ bietet Holzingers Gang einen furiosen Mix aus Theater, Tanz, Freakshow, Zirkus und der Erkundung von Schmerz- und Belastbarkeitsgrenzen.
Falter: Frau Holzinger, wir schreiben das Jahr 2023 nach Christi Geburt. Was trennt uns immer noch vom goldenen Matriarchat?
Florentina Holzinger: Abgesehen von der Realität, meinen Sie? Wobei das Matriarchat ja nicht einmal mehr in der Fantasie so golden ist. Geschlechtergrenzen und binäres Denken lösen sich gerade auf, das Matriarchat wäre da kein großer Fortschritt.
Ist es nicht einfach ein positiver Gegenentwurf zum Patriarchat?
Holzinger: Inhaltlich schon, aber begrifflich hakt es, weil da statt dem Mann eben die Frau drinsteckt. Dabei ginge es in der Utopie doch darum, dass man über Geschlecht gar nicht mehr reden muss.
Wie ist es im Tanz historisch um das Geschlechterverhältnis bestellt?
Holzinger: Wir befinden uns in einer Zeit des Umschwungs. Da ist reichlich Spannung vorhanden, weil vieles infrage gestellt wird – was auch für Widerstand sorgt. Gleichzeitig ist aber klar: Das Publikum muss sich erneuern, damit das Medium etwas Interessantes bieten kann. Diese Prozesse laufen, und gerade an einem traditionsbewussten Ort wie Wien füllen sie dann eben als „Krise der Bühnen“ die Medien.
Aber das gilt doch vor allem fürs Theater?
Holzinger: Stimmt, Tanz ist weit progressiver. Das Theater hat massiven Aufholbedarf, wobei ich für meinen Teil voll happy in der Krise dabei bin. Wer jammert denn? Vor allem jene, die sich mit dem Reflektieren und Umdenken schwertun. Zugleich leben wir in einer Zeit, in der man sich extrem schnell an neue Verhältnisse gewöhnt.
In der Kunst vielleicht. Die Politik hingegen tendiert wieder vermehrt in Richtung Vergangenheit. Wie geht es Ihnen damit?
Holzinger: Ich sehe da keine sonderliche Verschlechterung, denn die Tendenz nach stramm rechts war in Österreich immer schon da. Zumindest, seit ich es bewusst miterlebe. Gleichzeitig kann ich meiner Arbeit ohne Einschränkungen nachgehen, egal ob in Wien oder Berlin. In anderen europäischen Ländern wäre sie in dieser Form nicht möglich, reaktionäre Politik weiß derartige Kunst zu verhindern.
Sie haben sich in mehreren Stücken intensiv mit Ballett beschäftigt. Einer Kunstform, in der Drill und Zurichtung eine zentrale Rolle spielen. Was reizt Sie daran?
Holzinger: Der Reiz beginnt schon damit, dass mich mein Körperbau eigentlich davon exkludiert. „Ballett!“ ist aber immer noch die erste Assoziation, wenn Menschen wie meine Großmutter an Tanz denken. Als Tanz-Mainstream gilt bis heute nur diese Form. Ballett treibt die Idee der Virtuosität extrem auf die Spitze, gleichzeitig ist die Stilisierung weiblicher Repräsentation auf der Bühne nirgendwo ärger als hier. Jetzt wachsen Mädels vermutlich nicht mehr so krass mit diesem Balletttraum auf, in meiner Kindheit war es aber noch so.
Haben auch Sie diesen Traum geträumt?
Holzinger: Ich glaube schon. Ich bin unter Schwestern aufgewachsen, zum Spielen gab es eh Autos und Barbies. Zweitere haben wir aber bevorzugt, weil das auch all unsere Freundinnen im Kindergarten so gemacht haben. Als Teenager habe ich diese ganzen Girliesachen überhaupt nicht mehr gepackt.
Wie sind Sie denn dann als Anti-Girlie zum Tanz gekommen?
Holzinger: Ich behaupte immer gern, dass ich vom Sport komme. Tatsächlich war das aber nur Amateursport. Akrobatik und Eiskunstlauf haben meine Motorik sicher früh beeinflusst. Als ich im Teenageralter zu rauchen und kiffen begonnen habe, war mir Sport aber herzlich egal. Bis ich entdeckt habe, was abseits von Staatsopern-Ballett existiert, hat es gedauert, meine Eltern kommen nämlich aus keiner kulturellen Bubble. Durch Zufall bin ich in einer experimentellen Tanzklasse gelandet. Ausdruckstanz, aber das hat mir extrem getaugt. Danach bin ich in eine Theaterproduktion gestolpert, wo ich mein eigenes Material entwickeln konnte und wieder einen besseren Bezug zu meinem Körper hergestellt habe.
Von der Kifferin zur Leistungstänzerin?
Holzinger: Virtuos und schwitzend, das war mein Ideal, aber die guten Schulen haben alle einen Ballett-Background gefordert. Heute kannst du nach dem Angewandte-Studium auf die Tanzakademie gehen, damals ging ohne einschlägige Vorbildung gar nichts. Gelandet bin ich letztlich in einer Ausbildung zur Choreografin, dadurch wurde ich quasi zu meinem Glück gezwungen: Ich musste meine eigene Art von Tanz entwickeln. Die Plattform „experimenteller Tanz“ bietet dir viele Möglichkeiten, und die reize ich eben bis in die Extreme aus.
Erfordert dieses Ausreizen nicht ähnlich viel Disziplin wie klassisches Ballett?
Holzinger: Immer wieder höre ich die Frage, wie ich meine Tänzerinnen dazu bringe, derart gewaltsame Sachen zu machen. Choreografen großer Opernbühnen fragt das niemand. Seltsam, oder? Obendrein, wo ich es immer als Prozess anlege. Nicht die Choreografin entscheidet über den Körper der Tänzerin, sondern wir beschäftigen uns in der Erarbeitung von Stücken gemeinsam damit, was auf der Bühne passieren soll und wer wie viel Kontrolle hat.
Sie schaffen also niemandem an, sich an Fleischhaken in die Luft ziehen zu lassen?
Holzinger: Das machen nur Performerinnen mit langjährigem einschlägigen Training, die dabei ein physisches Gefühl haben, das sie geil finden. Auf die Bühne stellt man es aber natürlich aus anderen Gründen. Mich interessiert auch die unterschiedliche Bewertung ähnlicher Dinge in unterschiedlichen Kontexten. Im Zirkus oder in Freakshows sind extreme Körpergeschichten Unterhaltung für die ganze Familie, während das in der Kunst stets mit gewichtigen Diskursen verbunden wird, vom Wiener Aktionismus herauf bis zu Performances von Marina Abramović. Meine Stücke würde ich irgendwo dazwischen ansiedeln.
Warum ist Unterhaltung in der Kunst vielfach immer noch verpönt?
Holzinger: „Du verkaufst ständig die Volksbühne aus, du bist Mainstream“, höre ich inzwischen. Aber das ist doch cool! Alle wünschen sich immer, dass nicht nur die Theater- oder Tanzfuzzis hingehen. Erfolg zu haben heißt nicht zwangsläufig, dass man konventionell wird. Ich sehe das vielmehr als Bestätigung dafür, Teil einer Veränderung zu sein. Wäre es denn cooler, im Underground zu bleiben?
Wäre es das?
Holzinger: In einer bestimmten Größenordnung sind Sponsoren unumgänglich. Bei uns gibt es keine Zuwendungen der privaten Hand, weil wir viel zu edgy sind. Niemand will irgendwas mit Nacktheit zu tun haben – nicht mit unserer Form der Nacktheit jedenfalls. Trotz des Erfolgs steht das zwischen uns und dem Mainstream. Alles, was im Underground abseits von Institutionen passiert, ist natürlich immer interessanter und progressiver, hat aber auch Limitierungen. Ich respektiere es, zumindest im Moment, bestimmte Mittel zu haben, um meine Ideen umzusetzen. Außerdem verschwimmen die Grenzen in meinen Shows. Viele meiner Performerinnen verorten sich in Over- und Underground.
Aber der Begriff „Mainstream“ ist für Sie keine Beleidigung?
Holzinger: Eher ist er eine Bestätigung. Der Erfolg gewährleistet viel Freiheit, was natürlich ein Privileg ist. Ich brauche ausverkaufte Häuser, um meine Ideen in dieser Form umsetzen zu können. Und ich will nicht arrogant klingen, aber ich habe von der Theaterkrise und ihrem Publikumsschwund nichts mitbekommen. Solche Labels sind ja relativ. Es ist nach wie vor utopisch, bei meiner Arbeit von Mainstream-Tauglichkeit zu sprechen. Noch immer rennen reihenweise Leute aus den Shows. Sie packen nicht, wohin sie sich da verirrt haben und was das mit Tanz oder Theater zu tun haben soll.
Im neuen Stück haben Sie ein riesiges Wasserbecken und einen Hubschrauber auf der Bühne. Stöhnen die Häuser, wenn Sie mit Ihren Ideen daherkommen?
Holzinger: Ein beträchtlicher Teil der Arbeit besteht darin, Sachen durchzubringen, die andere hirnrissig finden. Bei den ersten technischen Gesprächen kriegt die Hälfte des Teams regelmäßig einen Herzinfarkt, dementsprechend kommt zuerst einmal eine umfangreiche „Nein“-Liste zurück. Teils aus Bequemlichkeit, teils aber auch einfach, weil die Erfahrungswerte fehlen. Je mehr wir in etablierten Institutionen agieren, desto stärker geht es auch um Bürokratie und Versicherungen.
So aufregend ist Ihr Beruf also gar nicht?
Holzinger: Der Teil, bis jeder Furz unterschrieben wurde, ist extrem öd. Du brauchst auch immer eine Person, die sich den Furz anhört und seine Dezibel misst. Aber ich mache das ja nicht alleine, sondern wir kämpfen als ganzes Team dafür, unsere Vorstellungen adäquat umsetzen zu können. Wenn ein Helikopter ins Spiel kommt, arbeiten wir eher mit Leuten aus dem Filmbereich, die irre Budgets gewohnt sind. Unser Stunt-Guy in Berlin ist sonst etwa für „Matrix“ tätig. Uns macht er einen Spottpreis, weil er es cool findet. Und weil das für ihn Underground ist, ha ha.
Die Bühne Ihrer Träume wäre ein nach Ihren Bedürfnissen gebautes Zirkuszelt?
Holzinger: Ich hätte nichts dagegen, meine Spielstätte selbst zu designen und versuche das ja auch mehr oder weniger. Ich war gerade in Las Vegas, weil mich das in vielerlei Hinsicht sehr interessiert, und ich habe mir auch immer gern etwas von Cirque-du-Soleil-Shows abgeschaut.
Reizt es Sie, selbst einmal mit einer Ihrer Shows in Las Vegas zu landen?
Holzinger: Das würde ich nicht packen, das Problem dort ist ja das Publikum. Nur für Bachelor- oder Hen-Partys zu performen? Phew. Außerdem wird da schon extrem zensiert, das ginge leider gar nicht für uns. Aber okay, ich würde es mir zumindest überlegen, denn in Vegas ist ja wirklich vieles möglich. Geld spielt für die Produktionen keine Rolle. Und man teilt sich vielleicht einen Backstagebereich mit Céline Dion.
Warum performen Sie immer nackt?
Holzinger: Sie stellen mir ernsthaft diese Frage?
In der Tat.
Holzinger: Je öfter ich sie beantworte, desto schwieriger wird es für mich. In erster Linie hat es ästhetische Gründe. Nacktheit ist in der Kunstgeschichte omnipräsent. Wir schnappen sie uns und spielen damit. Ich finde es auch höchst erfrischend, dem nackten, weiblich gelesenen Körper abseits von Pornos bei der Arbeit zuzusehen. Mit Nacktheit das erotische Momentum zu unterwandern war uns anfangs auch wichtig. Die Attraktivität der Tänzerinnen spielt im klassischen Tanz ja immer eine Rolle, ebenso gewisse Fantasien, die sie auslöst.
Schmutzige Fantasien?
Holzinger: Klassisches Ballett zeigt den weiblichen Körper bewusst in derart sexualisierter Form. Unsere Nacktheit hingegen erlaubt keine Fantasien, speziell dem konventionellen männlichen Betrachter nicht. Sexualität ist in meinen Arbeiten trotzdem ein großes Thema, daher auch die explizite Darstellung. Interessanterweise hat der nackte Körper auf der Bühne selbst 2023 noch eine sehr konfrontative Kraft. Wobei das in Berlin noch einmal anders ist: An der Volksbühne ziehen wir keine 50-plus-Lederhosentypen an, sondern Perverse allen Geschlechts, polemisch ausgedrückt.
Wann haben Sie sich auf der Bühne zuletzt unwohl gefühlt?
Holzinger: Wenn, dann rührt Unwohlsein nicht von Nacktheit her, sondern von der Verantwortung, die ich trage. Für die Sicherheit aller Performerinnen etwa. Zündet sich jemand im Kontext meiner Show an, ist das nicht nichts. Aufs Publikum bezogen habe ich mich noch nie unwohl gefühlt. Scham überkommt mich nur bei einem technischen Malheur, unter dem die Show leidet.
Welche Kunst provoziert eigentlich Florentina Holzinger?
Holzinger: Provozieren im Sinne von Herausfordern ist bei mir schwierig. Mich stört eher, wenn jegliche Herausforderung fehlt. Wobei ich eine sehr dankbare Zuschauerin bin und eigentlich in jedem Schas irgendwas Inspirierendes entdecke. Gerade auch in Kommerzshows. Die schaue ich mir im Zweifelsfall übrigens lieber an als Darbietungen der Hochkultur.
Anders als Sie hat der Kulturbetrieb große Angst vor Provokation. Sind all diese Triggerwarnungen denn ein Fortschritt oder sind sie schon Bevormundung?
Holzinger: Mir sind sie durchaus recht, weil bei uns ständig Leute im Publikum umkippen und das nichts ist, was ich bewusst hervorrufen möchte. Es wäre, ganz im Gegenteil, für alle Beteiligten angenehmer, wenn niemand umkippt. Ansonsten sind die Triggerwarnungen in meinem Fall doch lediglich eine Art Kurzbeschreibung meiner Arbeit in der Kronen Zeitung: „Sex, Blut, Gewalt und Urin!“
Apropos Kronen Zeitung: Können Sie mit dem Begriff „Heimat“ etwas anfangen?
Holzinger: Irgendwie schon, so als Konzept. Miete zahle ich in Wien, und wenn wir „Ophelia’s Got Talent“ hier zeigen, läuft das intern natürlich unter „Heimspiel“. Häuser wie Tanzquartier und Brut sowie das Festival Impulstanz haben mich extrem unterstützt und meine Arbeit so überhaupt erst möglich gemacht. Wien ist im internationalen Vergleich generell ein guter Ort: Hier stehen noch Mittel der öffentlichen Hand für experimentelle Sachen zur Verfügung. Und nicht nur das, diese Arbeit wird auch begrüßt. Das Wiener Publikum ist sehr cool. Ich habe mich immer total wohlgefühlt, hier zu performen, auch jetzt freuen wir uns schon wieder extrem darauf.
Es gibt das Klischee des superbösen Heavy-Metal-Musikers, der privat ein biederer, netter Mensch ist. Wie ist das bei Ihnen? Sind Sie auch abseits der Bühne eine Freundin der Extreme?
Holzinger: Zwischen der öffentlichen Figur und der Privatperson gibt es nicht viel Unterschied. Die Arbeit muss sich wie Leben anfühlen und irgendwie auch angenehm sein. Aber wir sind wahrscheinlich enttäuschend diszipliniert. Viele von uns gehen um zehn ins Bett. Okay, nicht alle – und nicht immer natürlich. Und wir schenken einander auch auffallend viele Skydiving-Flüge oder Shark Dives zum Geburtstag.
Was ist das Verrückteste, das Sie je aus Liebe gemacht haben?
Holzinger: Entscheidungen getroffen zu haben, die komplett abseits von Logik sind. Ziemlich viel Geld ausgeben vermutlich auch. Allerdings ist nichts, was man aus Liebe macht, verrückt. Einmal ganz abgesehen davon, dass für mich so manches normal ist, was anderen als verrückt erscheinen mag.
Florentina Holzinger,
1986 in Wien geboren, studierte in Amsterdam Choreografie und tritt seit 2011 mit eigenen Stücken als Performerin auf. Anfangs noch solo oder im Duo, inzwischen mit größerem Ensemble. Geschickt eint sie unterschiedliche Genres und verwischt konsequent die Grenzen zwischen Hochkultur und Entertainment. Ihr Stück „Tanz“ wurde 2020 zu einer der besten Produktionen im deutschsprachigen Raum gekürt; seit 2021 ist Holzinger an der Volksbühne Berlin engagiert
„Ophelia’s Got Talent“
„Fluktuation“, „Reflexion“, „Reproduktion“, „Heilung“ und „Gewalt“ lauten die Schlagworte zu Florentina Holzingers neuestem Stück, einer Koproduktion von Tanzquartier Wien und Volksbühne Berlin. Die Ankündigung als „physische Studie zur Psychologie des Wassers im 21. Jahrhundert“ klingt trocken, die Umsetzung verspricht das Gegenteil. Wie in Holzingers Arbeit üblich, verfließen die Grenzen zwischen Performance, Tanz, Stunt-Show, Martial Art und Zirkus Brutal
„Ophelia’s Got Talent“: Volkstheater, 17. bis 19.4., 19.30