Buch der Stunde
Was haben sich unsere Vorfahren dabei gedacht?
Silvia Ferrara, Professorin eines Orchideenfachs namens "Ägäische Kulturen" in Bologna, sorgte 2021 mit einem in munterem Plauderton verfassten, doch scharfsinnigen Buch für Aufsehen: Es revolutionierte unsere Vorstellungen der Schrift und ihrer Entstehung.
Während man lange annahm, die Schrift sei nur einmal entstanden, nämlich in Mesopotamien, entwickelt aus Aufschriften von Gefäßen mit Zählsteinen, kennen wir heute mindestens vier voneinander unabhängige Entstehungsorte - und Ferrara argumentierte beeindruckend stringent, dass in all diesen Fällen die Schriftzeichen aus Prozessen des Zeichnens hervorgingen. Schrift wäre somit keine bloße Ordnungs- und Herrschaftstechnik, sondern eine von vielen Früchten der experimentierenden Fantasie, bereits zu sehen in steinzeitlichen Ritzfigurationen und Höhlenmalereien.
Ferraras neues Buch präsentiert Notizen, die entstanden, als sie diesen Ursprüngen der Schrift im steinzeitlichen Bilddenken an berühmten Fundorten nachging. Schon älteste Höhlenmalereien zeigen Abdrücke von Händen und Füßen neben bildlichen Tierdarstellungen und geometrischen Mustern: Offenbar wurden sie wie Bausteine gedacht, vervielfältigt und absichtsvoll kombiniert, als wären diese frühen Künstler schon auf dem Weg zu einer Art Kodifizierung oder sogar Syntax.
Alle Spekulationen über den möglichen religiösen oder rituellen Sinn der Gebilde lässt Ferrara außen vor. So kann sie sich ganz auf die Übergänge von Dekorations- und Mallust hin zur Erprobung regelrechter, kodifizierter Zeichen konzentrieren. Sie analysiert unterschiedlichste Fundorte: monumentale Kultstätten wie das anatolische Göbekli Tepe genauso wie riesige Ritzbilder auf hawaiianischen Felsen. Es entsteht ein Panorama der Ausdruckswelten der Steinzeitmenschen - und zugleich ein Bild der alle verbindenden Gemeinsamkeiten der neuen, schöpferischen Formen des Denkens, das den Menschen einzigartig machte.
Silvia Ferrara: Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit. C.H. Beck, 224 S., € 26,80