Die langen Schatten der Väter
Seine weit ausholenden Panoramen "Die Brücke über die Drina" und "Wesire und Konsuln" komplettierte der jugoslawische Nobelpreisträger und Diplomat Ivo Andrić (1892-1975) in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs mit einer scharf gezeichneten individualpsychologischen Studie. Im Halbdunkel einer feuchten, kaum geheizten Wohnung sitzt das ältliche "Fräulein"; der geliebte Vater war aus Gram über seinen unverschuldeten wirtschaftlichen Untergang früh verschieden.
Die Lieblingstochter schwor ihm am Totenbett ewige Sparsamkeit, sie meinte, sich durch diese "Tugend" an der Welt zu rächen. Mit der Zeit schlägt sie in das Laster des Geizes um, ihre letzten Jahre verbringt sie in Einsamkeit und Isolation. Andrić ist eine böse Charakterstudie gelungen - allerdings mit patriotischen und antisemitischen Untertönen.
THOMAS LEITNER
Ivo Andrić: Das Fräulein. Deutsch von Edmund Schneeweis u. Katharina Wolf-Grießhaber. Zsolnay, 272 S., € 28,80
Auf dem Cover steht "Roman", im Haupttitel "Fragmentarium" und auf der Rückseite heißt es: "Vielleicht ist es ein Lokalaugenschein." Die 1960 in Wien geborene Autorin Christa Nebenführ fühlt sich zwischen den Genres wohl. Sie erzählt von einer Meidlinger Mittelstandsfamilie, die unter dem Bann von "Maßregelungen, Forderungen, Vorwürfen, Abwertungen und Wutausbrüchen" eines narzisstischen Vaters steht. Die Mutter begeht Selbstmord.
Minutiös gibt sie Gespräche und Briefe wieder, die den psychischen Missbrauch fühlbar machen. Dass Tochter Hermi, zugleich die Ich-Erzählerin, depressiv und alkoholsüchtig wird, überrascht kaum. Es gelingt ihr auch als Erwachsene nicht, das Elternhaus hinter sich zu lassen. Dieses Buch tut weh. Aber Literatur ist schließlich nicht dazu da, die Realität zu behübschen.
KIRSTIN BREITENFELLNER
Christa Nebenführ: Den König spielen die anderen. Klever, 234 S., € 24,-