Die Generationenfrage
Nach der Generation Z kommt die Generation Polar. Wie sinnvoll ist so eine Einteilung?
Martin Gruber agiert als Regisseur und Vordenker des aktionstheater ensemble, Michaela Bilgeri ist seit 2012 dabei (Foto: Heribert Corn)
Patsch! Eine heftige Ohrfeige erschüttert die Probenbühne des aktionstheater ensemble; in der gerade einstudierten Szene zum neuen Stück „Morbus Hysteria“ kommentiert die Schauspielerin Michaela Bilgeri eine blöde Bemerkung ihres Kollegen Thomas Kolle handgreiflich.
Kurz darauf bricht das Ensemble ab. Kolle hat glasige Augen und eine knallrote Wange, Bilgeri fällt ihm mit wortreichen Entschuldigungen um den Hals und busselt ihn ab. Hinter dem lauten „Patsch!“ steckt kein Trick, es war ein Unfall – Bilgeri ist um einen halben Schritt falsch gestanden, daher hat es tatsächlich gescheppert. Unangenehm für beide: Nach einer Verschnaufpause wird die Probe direkt mit der Ohrfeigenszene fortgesetzt.
Die Stücke der vor mehr als 30 Jahren gegründeten freien Gruppe wirken improvisiert, sind tatsächlich aber minutiös erarbeitet: Jede Geste, jedes Wort, jeder Halbschritt muss exakt sitzen. Inhaltlich geht es stets um Gesellschaftspolitisches – ohne erhobenen Zeigefinger freilich, dafür mit einer Extraportion Schmäh. Den Texten liegen langwierige kollektive Prozesse zugrunde, heraus kommt politisches Theater ohne Schnarch: hochdynamisch, schlau und ungemein kurzweilig.
Am 30. Mai hat „Morbus Hysteria“ im Werk X Premiere. Worum es in diesem Stück zur Zeit und in ihrer Arbeit generell geht, erklären Bilgeri, 41, und Regisseur Martin Gruber, 55, nach der Probe.
Falter: Frau Bilgeri, Herr Gruber, Ihr neues Stück heißt „Morbus Hysteria. Wir haben alle recht“. Welche Symptome zeichnet die Krankheit Hysterie aus?
Martin Gruber: Wie meist beim aktionstheater ensemble schwingt im Titel ein ironischer Unterton mit. Historisch ist „Hysterie“ ein stark mit Bedeutung aufgeladenes und äußerst negativ konnotiertes Wort. Damit arbeitet der Titel natürlich. Hysterie ist immer eine Unterstellung, daher ist der „Morbus Hysteria“ als solcher nicht klar benennbar. Darum geht es im Stück letztlich auch.
Michaela Bilgeri: Wer empfindet wie was – oder was wie?
Gruber: Nehmen wir nur den Woke-Diskurs: Man tritt da schnell in diverse Fettnäpfchen, was wir auf der Bühne auch bewusst tun. Wenn sich etwa der Vertreter einer minoritären Gruppe über eine andere aufregt. Gleichzeitig ist das, was heute unter „woke“ läuft, so neu auch wieder nicht. Unser Ensemble war bereits vor 20 Jahren divers, und das sollte eigentlich kein Thema, sondern eine Selbstverständlichkeit sein.
Ist es aber offenbar nicht.
Gruber: Ich tu mir schwer damit, wenn der linguistische Diskurs die Inhalte ersetzt, ich mich also alleine dadurch sakrosankt fühle, dass meine Sprache absolut korrekt ist. Was aber natürlich kein Argument gegen sprachliche Sensibilität sein soll. Ich gendere seit Ewigkeiten, will anderen deshalb aber nichts unterstellen.
Sind „woke“ Forderungen hysterisch oder sind es die Reaktionen darauf?
Bilgeri: Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, und genau das beschäftigt uns in „Morbus Hysteria“. Wie darf ich reagieren, wie nicht? Sind die Dinge so? Oder vielleicht ganz anders? Und was ist wann hysterisch? Höre ich gewisse Aussagen von Leuten, denke ich mir natürlich auch: Aus, Schluss, so nicht! Weil es meinem Weltbild zuwiderläuft. Aber es geht uns eben nicht darum, dieses moralische Empfinden auf der Bühne zu zeigen.
Worum geht es stattdessen?
Gruber: Grundsätzlich dient uns beim aktionstheater ensemble stets die eigene Blödheit als Ausgangspunkt.
Bilgeri: Unseren Stücken liegen immer gesellschaftspolitische Themen zugrunde. Im Vorbereitungsprozess reden wir intensiv darüber, was uns unter den Nägeln brennt und was gerade passiert. Wir wissen dann natürlich sehr genau, was wir gut finden und was nicht, aber es wäre doch stinkfad, unsere Meinung auf die Bühne zu bringen. Wie sagt Martin immer so richtig: Bei uns sitzen höchstwahrscheinlich nicht 80 Prozent Neonazis im Publikum.
Gruber: Es geht nicht darum, „richtig“ und „falsch“ zu klären, sondern um eine Temperatur. Wir leben in einem Paradigmenwechsel, und das ist gut und richtig. Queere Menschen werden endlich gehört und gesehen. Je diverser eine Gesellschaft abgebildet wird, desto realer wird diese Darstellung. Politisch adäquat darauf zu reagieren und diese Vielfalt als Faktum anzunehmen, ist das Gegenteil von Faschismus. Und doch erscheint mir nicht jede woke Kritik als angemessen.
Was heißt das konkret?
Gruber: Geht es um den eigenen Distinktionsgewinn, wird es mühsam. Wenn ich also etwas vor allem deshalb verwende, um mir selbst einen runterzuholen. Es ist die Grundvoraussetzung jeder Diskussion, einander zuzuhören und ernst zu nehmen. Es hilft auch, zuerst einmal das Beste vom Gegenüber anzunehmen und nicht von vornherein Negatives zu unterstellen. Die große Frage lautet also: Wann geht es wirklich um den Diskurs und wann nur um den „hysterischen“ Distinktionsgewinn?
Wer entscheidet denn, wo die gute Absicht aufhört und das Runterholen anfängt?
Gruber: Wir selber und das jedes Mal aufs Neue. Harte Arbeit also, aber Kunst ist ein gutes Mittel der Auseinandersetzung. Der permanente Diskurs ist wahnsinnig mühsam, aber essenziell. Ein „Richtig/falsch“-Kriterienkatalog würde dem permanenten gesellschaftlichen Wandel nicht gerecht werden. Im besten politischen Falle ist die Atmosphäre da, dass ich dir zuhöre, deine Bedürfnisse ernst nehme, es umgekehrt gleich läuft und sich darüber etwas Gemeinsames findet. Bubbles sind der Gegenentwurf dazu – und eines der Hauptthemen im Stück. Diese Echoräume werden immer kleinteiliger, sodass letztlich alle aus dem Ensemble für sich genommen eine wandelnde Bubble sind, obwohl jede und jeder von uns aus derselben linken Blase kommt. Diese Egozentrik ist das Grundthema von „Morbus Hysteria“.
Bilgeri: Bei aller Ernsthaftigkeit sorgt das auch für den Witz des Stücks. Wir sehen uns gern als links, offen, liberal – und dann merken wir, dass wir an gewisse Grenzen stoßen, wobei sich diese Grenzen innerhalb des Ensembles natürlich individuell unterscheiden. Das Publikum darf sich da seinen eigenen Reim darauf machen, sich auch immer wieder selbst ertappen und in Klischees wiederfinden.
Gruber: Ich wollte mit meinen Stücken nie einfach nur Missstände anprangern und das Gute in Opposition zum Bösen darstellen, sondern ich wollte immer Prozesse auslösen: Was können wir auf der Bühne tun, um das Publikum zur Selbstreflexion zu animieren? Brecht war schon gut, aber inzwischen brauchen wir andere Mittel, die Dinge zu spiegeln. Der erhobene Zeigefinger ist peinlich. Fast alles heute ist Showpolitik, und inzwischen spürt ja jeder einigermaßen denkende Mensch, dass etwas im Argen liegt. Auch diese Not, geboren aus dem Mangel an Visionen, ist ein Aspekt, den wir zu greifen versuchen.
Bilgeri: „Vor lauter großer Probleme ist kein Raum mehr für meine kleinen Probleme“, heißt es an einer Stelle. Es gibt also nur noch Bubbles und keine Einzelpersonen mehr.
Aber liegt das Problem der sogenannten Identitätspolitik nicht genau darin: Sie stellt individuelle Bedürfnisse in den Vordergrund und verliert darüber das größere Ganze aus den Augen?
Bilgeri: Da ist schon etwas dran, am individuellen Gefühl des Nicht-gehört-Werdens allerdings ebenfalls.
Gruber: Wir haben da auch auf politischer Ebene ein Problem. Was sind Figuren wie Trump oder Kurz denn anderes als Identitätspolitiker, also Karikaturen von Narzissten, denen es einzig um ihre eigenen Bedürfnisse geht?
Warum sind diese Witzfiguren oder auch ein Schreivogel wie der aktuelle FPÖ-Führer Kickl derart erfolgreich?
Gruber: Um in Österreich zu bleiben: Unter Kreisky war es so, dass man auch als Arbeiter einen großbürgerlichen Intellektuellen gewählt und seinem Agieren vertraut hat. Seit Haider wählt man sich selbst. Damit geht auch der Niveauverlust in der Politik einher: Es gibt keine gesamtgesellschaftlichen Entwürfe mehr, sondern es werden die jeweiligen Floskeln des Stammtischs mehr oder weniger aufpoliert bedient. Und damit Egoismus und Narzissmus. Darüber geht die Mitte verloren, alle hecheln – mehr oder weniger offensichtlich – der FPÖ hinterher, anstatt deren Erzählung ein neues Narrativ entgegenzusetzen.
Hoffnungsschimmer sehen Sie keinen?
Bilgeri: Am Ende der Arbeit an einem Stück kann es leicht passieren, dass wir in Wutreden verfallen. Prinzipiell sind wir aber eh hoffnungsfrohe Typen. Ich glaube an das Gute im Menschen, und ich glaube, dass man sich bei entsprechender Auseinandersetzung miteinander immer irgendwo finden kann.
Gruber: Es ist wichtig und gut, reinzuscheißen. Es ist wichtig und gut, die Sau rauszulassen. Katharsis ist etwas absolut Positives. Negativ wird es, wenn ich in die Depression gehe, nach innen gehe, mich nicht mehr artikuliere und aufrege.
Bilgeri: Und wenn ich keine Hoffnung mehr habe, denn dann ist eigentlich alles vorbei. Man kann es sich also gar nicht aussuchen, man muss hoffnungsvoll sein, denn ansonsten hat man aufgegeben.
Gruber: Vermutlich haben sich noch nie so viele Menschen für andere eingesetzt wie heute. Dieser positive Aspekt flackert in unseren Stücken immer auf, denn wir zielen auf die Aktivierung des Publikums. Wer eine Vision der besseren Welt auf die Bühne bringen möchte, landet meist beim Kitsch. Uns geht es vielmehr um Empowerment.
Ein großes Wort. Welche Rolle kann denn Kunst im Allgemeinen und ein Theaterstück im Speziellen bei gesellschaftlichen Prozessen und politischen Debatten spielen?
Gruber: Das Problem unserer Zeit ist kein rein intellektuelles, obwohl niemand blöd sterben sollte. Kunst ist nicht in erster Linie dazu da, neue Modelle zu präsentieren, denn das wäre Hybris. Sehr wohl aber kann sie zu neuen Denk- und vor allem auch Fühlprozessen anregen, weil sie etwas Anarchisches hat. Spannender als das Stück selbst sind letztlich die Emotionen und Reaktionen, die es auslöst.
Bilgeri: Ob uns das mit „Morbus Hysteria“ wirklich gelingt? Ich hoffe es. Genau darum gehen wir ja immer wieder auf die Bühne, in genau dieser Form mit genau diesen Inhalten. Wir wollen Strukturen aufzeigen und zerstören, einfach einmal alles über den Haufen werfen.
Gruber: Kunst soll nicht nur sich selbst dienen, ohne hier allzu moralisch werden zu wollen. Zugleich ist die Ästhetik sehr wichtig. Die Musik also, die Bühne, die Choreografie, das Drumherum. Theater ist ja kein Hörspiel auf Stelzen.
„Morbus Hysteria“ zufolge ist ein Mangel an Empathie das große aktuelle Übel?
Bilgeri: Alles, worüber wir hier gerade sprechen, basiert auf einem Mangel an Empathie. Ohne Interesse an anderen Menschen und anderen Welten findet kein Austausch statt, und ohne Austausch ändert sich nichts. Bringst du hingegen ein Mindestmaß an Empathie auf, kannst du andere gar nicht mehr hassen, abschieben wollen oder was auch immer.
Wie geht es Ihnen beim Hineinfühlen in andere denn mit aktuellen feministischen Debatten, die von verhärteten Positionen und großer Aufgeregtheit geprägt sind?
Bilgeri: Ganz ehrlich? Ich finde diese Debatte gut. Es gibt einen Status quo, nur funktioniert der offensichtlich nicht für alle, also wird das benannt. Und zwar völlig zu Recht, denn schaust du dir Sabine Derflingers Dohnal-Film an, kriegst du die Krise, weil du dir denkst: Dasselbe habe ich doch gerade gestern erst zu jemandem gesagt?! Gut, dass es diesen Feminismus gibt, aber offenbar genügt er nicht. Wir müssen noch etwas anderes entwickeln, wir müssen weiterdenken. Ich nehme das weniger als Frontstellung, sondern vielmehr als Aufbrechen wahr. Eine jüngere Generation hat neue Forderungen und will etwas Neues daraus machen. Nur so ist Veränderung oder gar Revolution möglich. Streit und Reibung sind super, solange es auch Austausch gibt.
Genau daran scheint es derzeit zu kranken.
Bilgeri: Vielleicht kenne ich mich in dieser Debatte nicht gut genug aus, aber ich bin zu hundert Prozent Feministin und ich liebe den Kampf. Allerdings hasse ich es auch, dass gekämpft werden muss.
Gruber: Ich schätze das Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, in der Alice Schwarzer und Judith Butler gleichermaßen Platz haben, Feminismus der alten Schule und Queerfeminismus also. Natürlich ist es eine Errungenschaft, dass Transpersonen heute sichtbarer sind. Gleichzeitig verstehe ich langjährige Feministinnen, die nicht wollen, dass ihre in mühsamer, langwieriger Arbeit erkämpften Räume durch die Hintertür infrage gestellt werden. Die Alternative zur aufgeklärten Gesellschaft, in der beide Positionen Platz haben, sehen wir in Russland, wo der Machismo fröhliche Urständ feiert. In Wirklichkeit ist das ein letztes Aufbäumen alter patriarchaler Strukturen. Durch diese Scheiße müssen wir leider durch, auf andere Art gilt das auch für die USA. Aber wir wissen, wo es längerfristig hingeht – sicher nicht Richtung Russland.
Bilgeri: Der Feminismus muss viel radikaler sein. Geht es im bisherigen Tempo weiter, sind wir Studien zufolge in 300 Jahren auf Augenhöhe angekommen. Ich habe keine Lust, so lange zu warten.
Welche Impfung empfehlen Sie gegen den „Morbus Hysteria“?
Bilgeri: „Impfung“ klingt so endgültig. Vielleicht gilt, genau im Gegenteil, dass es nicht die eine Medizin gibt, die per Rezept verschrieben werden kann. Sie könnte vielmehr in Flexibilität und Offenheit liegen. Auf andere einzugehen also und andere auf sich selbst zugehen zu lassen, nicht zuzumachen. Das mag anstrengend und unangenehm sein, ist aber gewiss zielführender als ein bestimmtes Rezept, an dem man unverrückbar festhält.
Ihren Stücken liegt stets ein äußerst intensiver Prozess der Texterarbeitung zugrunde. Wie lange wird es denn noch dauern, bis eine künstliche Intelligenz diesen Knochenjob für Sie übernimmt?
Bilgeri: Damit hätten wir ChatGPT lustigerweise schon für „Morbus Hysteria“ beauftragt. In der Absicht, eine Passage ins Stück reinzunehmen und zu schauen, ob es wer merkt. Wir haben das aber wieder verworfen, weil unsere selbstkreierten Texte dann doch interessanter waren. Chat GPT war für unseren Gebrauch zu gemäßigt.
Gruber: Vor allem greift es auf Vorhandenes zurück. Theater ist der Gegenentwurf dazu, Theater liefert eine Vision. Die große Kraft des Menschen ist seine Fähigkeit, quer denken zu können – ohne deshalb gleich zum Querdenker zu werden. ChatGPT mag auf alle Quellen dieser Welt zurückgreifen, ihr wird aber immer die Fähigkeit fehlen, Dinge kreativ über den Haufen zu werfen und völlig neu zu denken.F
Das aktionstheater ensemble, 1989 von Martin Gruber in Dornbirn gegründet, zählt zu den renommiertesten und spannendsten freien Theatergruppen Österreichs, Stücke wie „Pension Europa“ wurden zu großen Publikumserfolgen. Das Politische konsequent im Privaten suchend, wohnt den Arbeiten bei aller Drastik stets auch viel Witz inne
Morbus Hysteria. Wir haben alle recht: Werk X, 30.5. sowie 1. bis 4.6., 19.30