Martin Amis: Kind des hedonistischen Scheiß-drauf-Kapitalismus

Feuilleton, FALTER 21/2023 vom 24.05.2023

In einer Ära, in der trigger warnings und sensitivity readings zur Selbstverständlichkeit geworden sind, muss die Karriere Martin Amis' wie eine Story aus der Kreidezeit des literarischen Lebens anmuten. Im britischen Boys Club um Julian Barnes und Ian McEwan war der Jüngste unter ihnen zwar nicht der Höchstdekorierte - im Unterschied zu den anderen beiden wurde "Little Martin" für den Booker Prize nur nominiert -, aber der mit dem meisten Sexappeal. Dass ihm dies den Beinamen "Mick Jagger der Literatur" eintrug, konterte Amis adäquat arrogant mit der Frage, warum der nicht eigentlich als "Martin Amis des Rock 'n'Roll" apostrophiert werde.

Der meinungsfreudige Publizist - Oxford-Absolvent mit Auszeichnung, Romancier, Redakteur, Journalist und Rezensent - gab im Licht nicht nur der literarischen Öffentlichkeit, sondern auch der Klatschspalten mit Gusto das Enfant terrible und war bis zu einem gewissen Grad auch ein Kind jenes hedonistischen Scheißdrauf-Kapitalismus, den er in seinem bekanntesten Roman "Money. A Suicide Note" (1984, dt.:"Gier") satirisch aufs Korn nahm. Zu den literarischen Hausgöttern Amis', der wahlweise als brillanter Stilist oder manierierter Filou wahrgenommen wurde, zählte neben Vladimir Nabokov auch der US-Autor Saul Bellow, mit dem er befreundet war.

Neben der eigenen Person, über die er zuletzt in "Inside Story" (2020; dt.: 2022) buchstäblich erschöpfend Auskunft gab, waren die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zu Amis' Lebensthema geworden. Während er in "Koba, der Schreckliche" (2002) mit Stalin und der kokett-frivolen Haltung der englischen Linken gegenüber "Uncle Joe" abrechnete, legte er mit "Zone of Interest" (2014; dt.:"Interessengebiet") eine spekulative Holocaust-"Satire" vor, die sich in etwa so las, als hätte Quentin Tarantino ein Remake von Franz Antels "Frau Wirtin bläst auch gern Trompete" gedreht. Am 19. Mai ist Martin Amis in Florida einem Krebsleiden erlegen.

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