Das Herz verfehlt, den Kopf erreicht

Feuilleton, FALTER 22/2023 vom 31.05.2023

Montag, 22. Mai: Liebes Tagebuch! Heute war ich fast fünf Stunden im Theater, die ersten zwei davon gleichzeitig auch irgendwie im Museum. Im Odeon hatte am Nachmittag Marina Davydova Premiere mit "Museum of Uncounted Voices". Der Raum wandelte sich von der großrussischen Propagandaausstellung zum sprechenden Geschichtslabor, dann sprach eine Performerin einen Monolog über Davydovas komplexe nationale Identität. Das war zwischendurch echt zäh, aber als Ganzes konsequent und klug.

Zum Glück ergänzte die fehlende Portion Sinnlichkeit und Schauspielkunst Simon McBurneys Literaturadaption "Drive Your Plow Over the Bones of the Dead" im Theater Akzent. Inmitten eines agilen Ensembles raubte mir Kathryn Hunter in der Rolle einer fanatisch tierlieben Englischlehrerin schier den Atem.

Mittwoch, 24. Mai: Dafür konnte ich hiermit nix anfangen: Matija Ferlin ordnete in "Canti di Prigionia" eifrig einen blassrosa gewandeten Chor zu immer neuen Bildern an. Mir war, als störe ich, selbst unerweckt, das Ritual einer Erweckungssekte.

Freitag, 26. Mai: Sympathisch fand ich Sarah Vanhee und ihr Stück über ihre Großmütter: "Mémé". Wie sehr die Künstlerin dabei - mithilfe von Videos ihres Kindes - Einblicke in ihr Privatleben gestattet, hat mich, teils unangenehm, aber doch: berührt.

Schließlich die am längsten erwartete Produktion dieser Festwochen: "Antigone im Amazonas" vom Bald-Intendanten Milo Rau hätte schon 2020 rauskommen sollen (Corona). Da war viel Filmmaterial, viel griechisch-tragisches Wehklagen, viel Info über die katastrophale Lage der Indigenen in Brasilien. So endet im Burgtheater die Woche für mich, wie sie begonnen hat: mit einer Aufführung, die mein Herz nicht erreicht, während mein Kopf anerkennt, dass sie echt nicht schlecht ist.

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