Geschwisterliebe in den 1990ern: Zwei, die sich neu erfinden

Feuilleton, FALTER 24/2023 vom 14.06.2023

Der Schwerpunkt auf österreichische Literatur im Zuge der Leipziger Buchmesse hat zu einem Overkill an Veröffentlichungen geführt. Nicht wenige Autorinnen und Autoren klagen nun, sie hätten ihre neuen Romane besser für Herbst aufheben sollen, da die mediale Aufmerksamkeit vor allem den sattsam bekannten Namen gegolten habe. Da ist schon etwas dran.

Eine, die sich nicht vor- oder gar aufdrängen würde, aber viel mehr

Beachtung verdient, ist die aus der Slowakei stammende und seit 1990 in Österreich lebende Susanne Gregor (Jg. 1981). In ihrem Roman "Das letzte rote Jahr" (2019) schrieb sie über die Umbrüche von 1989, mit "Wir werden fliegen" spinnt sie den Stoff nun fort und lädt zu einer Zeitreise in die 90er-Jahre.

Ohne viel Ballast zeichnet das Buch die Anything-goes-Mentalität der Dekade nach. Mobiltelefone und das Internet werden von den Romanfiguren noch nicht als Fesseln empfunden. Im Gegenteil: Es herrscht ein Gefühl von Aufbruch und Freiheit.

Gregor erzählt von den Geschwistern Misa und Alan, die nach 1989 zwischen Wien, Berlin und der Slowakei unterschiedliche Wege gehen und sich dabei fast verlieren. Beiden bleibt die Herkunft stets eingeschrieben, trotz angestrengter Versuche, sie abzuschütteln. Alan erfindet sich völlig neu, seine Schwester sucht ihren Weg im Leben noch.

Die Autorin versteht es, Figuren mit wenigen Strichen bis in die kleinsten Gefühlsregungen nachvollziehbar zu zeichnen. Ihre Meisterschaft unterstreicht der Umstand, wie einfach sie alles aussehen lässt. Die wechselnden Handlungsstränge, Ortswechsel und Zeitsprünge - die Räder greifen wie selbstverständlich ineinander.

Die Sprache ist erfrischend klar, nüchtern, frei von Pathos (nicht vom Titel täuschen lassen!) - und doch auch elegant. Susanne Gregor ist ein leichtfüßig auftretender Roman über eine Ära des Umbruchs gelungen, der Gewicht hat.


Susanne Gregor: Wir werden fliegen. Frankfurter Verlagsanstalt, 256 S., € 24,70

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