Nesterval macht Theater zum mitspielen und ist zweifellos die angesagteste Gruppe Wiens

Die Kulturkritik der Woche

Lina Paulitsch
Feuilleton, FALTER 25/2023 vom 21.06.2023

Ein derartiges Gezittere kennt man noch aus Studienzeiten: Wer einen Platz im besten USI-Kurs will, muss frühmorgens hinterm Bildschirm sitzen, die Hand in Startposition auf der Maus. Um Punkt acht Uhr, wenn sich das Anmeldefenster öffnet, freuen sich die am schnellsten Klickenden.

Ein ähnliches Prozedere durchläuft das Theaterpublikum, das eine Karte der Compagnie Nesterval ergattern möchte. Innerhalb weniger Minuten sind die Vorstellungen stets restlos ausverkauft. Analoge Leserinnen und Leser kann ich dank Selbstexperiment aber beruhigen: An der Abendkassa klappt es dann doch irgendwie.

"Die Namenlosen" heißt das gefragteste Stück der Saison -ein immersives Theater, in dem das Publikum sich frei durch verschiedene Szenen bewegen kann. Getrennt durch schwarze Vorhänge entsteht ein Labyrinth an Alltagssituationen: ein Geschwisterstreit in einer Apotheke, zwei Männer im Kino, eine anzulernende Verkäuferin. Gemeinsam ist den Figuren, dass sie während des Nationalsozialismus lebten - und verfolgt und ermordet wurden, weil sie homo- oder transsexuell waren.

Nesterval zieht das Publikum direkt in dieses bislang unterbeleuchtete Kapitel der Geschichte hinein. Seit 2011 ist die Gruppe um Regisseur Martin Finnland mit ihrem Mitmach-Prinzip höchst erfolgreich. Die meisten der rund 30 darstellenden Personen sind Laien. Sie nehmen jeweils eine Gruppe an Zuschauern an der Hand und führen sie von einem Schauplatz zum nächsten. Der dreistündige Abend endet beklemmend, tränenreich und mit kollektiver Begeisterung. Noch Karten gibt es für Hamburg, wo das Stück im August gastiert. Auch Wien hofft auf ein Comeback. Das Publikum ist schon für den Mausklick bereit.

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