Der Film beginnt nach dem Kinobesuch

Eine Retrospektive im Gartenbau lädt zum Eintauchen in das einzigartige Universum des französischen Komikers Jacques Tati

Dominique Gromes
FALTER:Woche, FALTER:Woche 26/2023 vom 28.06.2023

Eine letzte Rechenaufgabe vor den Ferien: Wenn A für die Kulturkritik von Charlie Chaplin steht und B für den visuellen Einfallsreichtum von Wes Anderson, wofür steht dann X, wenn X genau jenen Punkt bezeichnet, an dem A und B einander überschneiden? Die richtige Antwort lautet natürlich: Jacques Tati.

"Von jetzt an kommt kein Spektakel mehr ohne diesen großartigen Performer aus. Sein Spiel ist zu gleichen Teilen Ballett und Sport, Satire und Farce. Jacques Tati gelingt es, der Tennisspieler, der Ball und der Schläger gleichzeitig zu sein." Derart schwärmerisch äußerte sich die französische Presse, als Tati 1936 mit seiner Slapstick-Revue "Impressions sportives" in Varietés von Paris bis Berlin auftrat.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckte der 1907 geborene Pantomime Tati auch die Möglichkeiten des Kinos für sich - und schaffte es in kürzester Zeit bis zur Oscar-Verleihung nach Hollywood. Eine Retrospektive im Gartenbaukino feiert ab 30. Juni sein außergewöhnliches Film-Universum.

Perfektionismus und Einzelgängertum, mit diesen Eigenschaften wird Jacques Tatischeff - so der gebürtige Name des Enkels eines russischen Generals und Sohn eines französischen Bilderrahmen-Machers -am häufigsten beschrieben. Gleich für seinen ersten Film "Jour de fête" ("Tati's Schützenfest", 1949) gründete er eine Produktionsfirma, schrieb das Drehbuch, übernahm die Regie und auch noch die Hauptrolle. Zudem war "Jour de fête" als erster französischer Langspielfilm in Farbe geplant.

Dass es anders kommen sollte, lag am Thomson-Color-Filmmaterial: In den Kinos hätten drei Farbfilmstreifen parallel abgespielt werden müssen -die wenigsten Projektoren waren dazu imstande. So kam die pastoral-kitschige Land-Komödie über die Missgeschicke eines radfahrenden Briefträgers in klassischem Schwarz-Weiß in die Kinos. Und außerdem beinahe stumm.

"Tatis Arbeit mit Ton hat die Tradition der Stummfilme in eine neue Ära geführt", erklärte einst Buster Keaton. "Stumm" bedeutete bei Jacques Tati vor allem "ohne Dialog". An Geräuschen, Musik und sogar Lärm mangelt es seinen Komödien keineswegs. Auch im zweiten Film "Les Vacances de monsieur Hulot" ("Die Ferien des Monsieur Hulot", 1953) unterhalten sich die Protagonisten - internationale Sommergäste eines bretonischen Badeorts - mit Händen und Füßen.

Der titelgebende Monsieur Hulot verwendet den ganzen Film hindurch nur ein einziges Wort. Mit einem knappen "Hulot" stellt sich der introvertierte Tollpatsch bei neuen Gästen vor - um dann alle weiteren sozialen Verpflichtung zu meiden.

Tati verkörperte Monsieur Hulot, die Figur sollte zu dessen Schicksal werden; sie tauchte in jedem seiner sechs Filme auf. Das Publikum liebte den schlaksigen Mann mit Trenchcoat, Hut und Pfeife. Es erkannte sich wieder in dieser Figur, für die Technik, Konsum und Kapitalismus die Welt viel zu schnell verändert haben.

In diesem Punkt sind Jacques Tatis Filme bis heute aktuell. In "Mon oncle" (1958) lebt der neunjährige Gérard mit seinen Eltern in modernster Architektur, umgeben von neuester Technologie. In der Küche entsteht das Essen unterm Lärm der Maschinen wie von selbst, das Wohnzimmer ist so chic, dass es keiner Möbel bedarf, und im Garten steht fragwürdige Kunst im Weg. Kein Wunder, dass es Gérard am meisten freut, wenn sein altmodischer Onkel Hulot zu Besuch kommt und zum Spielen einen simplen Ball mitbringt.

"Mon oncle" ist Tatis Meisterstück und erhielt den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Auch die für diese Produktion entworfene "Villa Arpel" hat nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Der graue Kubus mit den hallenden Räumen und dem quietschbunten Gartendesign wurde zuletzt 2014 ausgestellt; als Modell war dieses "Schreckgespenst der Moderne" im französischen Pavillon der Architekturbiennale in Venedig zu sehen.

Heute ist der 1982 verstorbene Schauspieler und Regisseur vor allem für "Playtime" (1967) bekannt. Drei Jahre lang hat er für diese kompromisslose Komödie einen ganzen Stadtteil errichten lassen. Paris sieht hier aus wie New York, in dem sich ein Wolkenkratzer im nächsten spiegelt und das Grau der Straßen vom Stau der Autos überdeckt wird. Dass es Monsieur Hulot nicht gelingen wird, hier eine bestimmte Person ausfindig zu machen, ist schnell klar.

Dafür muss er - über einen Zeitraum von 24 Stunden - miterleben, wie das Leben der Bewohner eine Abfolge von Zwängen geworden ist und ihre individuellen Wünsche kollektiven Bedürfnissen weichen mussten. Mit "Playtime" schuf Jacques Tati eine unverwechselbare visuelle Welt, die aktuellen Regisseuren wie Wes Anderson als Vorbild dient. So gibt es in diesem Film keine Nahaufnahmen, die kollektivistische Gesellschaft wird ausschließlich über großflächige Totalen erzählt.

Ein echter Geniestreich: Wenn die Kamera den Blick nicht lenkt und sich alle im Kino individuelle Mikrogeschichten aus den Wimmelbildern picken müssen, ist das die wahre Demokratisierung des Geschichtenerzählens.

Oder, wie Jacques Tati einmal gesagt hat: "Ich möchte, dass für das Publikum der Film erst beginnt, wenn es das Kino verlässt."


Werkschau Jacques Tati: Gartenbaukino, 30.6. bis 19.7. gartenbaukino.at

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