Wie ein Wiener gegen islamistische Propaganda ankämpft
Auf Tiktok und Youtube verbreiten sich gefährliche Inhalte zum Islam. Ahmad war selbst in dieser extremistischen Szene unterwegs. Heute hält er dagegen
Ahmad könnte heute tot sein. Dass er noch lebt, verdankt er seiner Familie und einem islamischen Prediger. Vor sieben Jahren wäre der damals 15-Jährige beinahe zum sogenannten Islamischen Staat nach Syrien gereist. Er wollte dort mit seinen „Brüdern“ im „heiligen Krieg“ kämpfen.
Der Wiener mit tschetschenischen Wurzeln war schon auf dem Weg, als ihn seine Familie in letzter Sekunde stoppte. Mit einem Trick konnte seine Schwester Ahmad die Adresse entlocken, an der er sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Er war in Graz bei anderen IS-Sympathisanten untergekommen. Von dort hätte er in den Nahen Osten weiterreisen sollen. Sein Vater war schneller als die Terroristen. Er holte den Sohn in der steirischen Hauptstadt ab, brachte ihn zurück nach Wien und schickte ihn in eine Moschee. Ein Imam sollte den Burschen zur Vernunft bringen. Ihm die IS-Ideologie austreiben. Und das funktionierte erstaunlich gut.
Heute ist Ahmad ein anderer. Der radikalen Ideologie des Islamischen Staates kann der 24-Jährige nichts mehr abgewinnen. Im Gegenteil. Gemeinsam mit dem Wiener Polizisten Uwe Schaffer leistet er seit November 2022 auf Tiktok „Präventionsarbeit“, wie Ahmad das nennt. In Kurzvideos stellt der Tschetschene dem Polizisten Uwe Fragen aus der Tiktok-Community – dabei geht es hauptsächlich um Rechtsfragen und Themen wie Polizeigewalt und Rassismus. Der Erfolg gibt den beiden recht. Wenn Ahmad mit seinem kleinen Mikrofon in der Hand breitbeinig über das Gelände des Donauinselfestes spaziert, stürmt schon einmal eine ganze Schulklasse herbei, weil sie ein Foto mit ihm machen will. 13.000 Menschen folgen seinem Kanal mittlerweile auf Tiktok. Die Videos von „Cop und Che” – Che ist ein Kurzwort für Tschetschene und Cop die englische Bezeichnung für Polizist – sehen bis zu 300.000 Menschen.
Wie hat Ahmad diesen Sprung vom radikalen Moslem zum progressiven Aufklärer geschafft? Und wie hat er sich überhaupt erst radikalisiert?
Seit Mitte Juni bekannt wurde, dass der Verfassungsschutz drei Jugendliche eines mutmaßlichen Anschlags auf die Vienna Pride Parade verdächtigt, diskutieren Politik und Medien wieder darüber, warum sich junge Menschen, die in Österreich aufgewachsen sind, extremen Ideologien zuwenden.
Die drei jungen Männer – 14, 17 und 20 Jahre alt – haben sich im Internet radikalisiert. In der Polizeivernehmung gaben sie an, dass sie sich Videos auf Youtube ansahen, wenn sie „religiöse Auskunft” wollten. Dann kamen Videos über den Krieg, IS-Ausreiser und Inhalte von islamistischen Predigern. Irgendwann landeten sie in einschlägigen Telegram-Kanälen und chatteten mit IS-Unterstützern. Und die drei sind keine Ausnahme.
Neosalafistische und islamistische Influencer haben in den vergangenen Jahren erfolgreich die sozialen Medien gekapert. Wer etwa auf Youtube nach Antworten auf Fragen zum Islam sucht, „gerät nahezu automatisch in eine extremistische Informationsblase“, schreibt modus zad, ein deutsches Institut für Deradikalisierungsforschung. Und das sieht so aus:
„Darf man Frauen die Hand geben während dem Fasten?“, fragt eine anonyme Stimme Ibrahim el Azzazi, einen Tiktok-Influencer und selbsternannten Prediger mit dichtem Bart und Kopftuch. Wegen seiner radikalen Ideologie wird er vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Seine Antwort: „Man darf Frauen nicht die Hand geben während dem Fasten, auch während dem Nicht-Fasten darf man ihnen nicht die Hand geben. Man darf Frauen überhaupt nicht die Hand geben.“ 2,2 Millionen Mal wurde das 13-sekündige Video auf Tiktok geklickt.
Kanäle wie jene von el Azzazi oder Muslim Interaktiv ködern Jugendliche mit schnellgeschnittenen, poppigen Kurzvideos. Sie beanspruchen für sich, den „wahren Islam“ zu vertreten, und wollen Verunsicherten Orientierung bieten. Aber die Ideologie, die dahintersteckt, ist gefährlich. „Mit ihren radikalen Botschaften bewegen sie sich am Rande der Meinungs- und Glaubensfreiheit“, schreibt modus zad.
Laut der österreichischen Dokumentationsstelle für politischen Islam (DPI) eint die Kanäle eine gemeinsame Verschwörungserzählung. Oft wird legitime Kritik, etwa an islamfeindlichen Aussagen von Politikern, zu einem Narrativ verallgemeinert, dass „Staat, Parteien und ,die Medien’ über Jahrzehnte hinweg antimuslimischen Rassismus gefördert hätten, um damit langfristig eine ,Umerziehung der Bevölkerung’ zum Islamhass zu erzielen“, heißt es in einem Bericht der DPI. Schlagworte wie „Zwangsassimilation“, „Dämonisierung des Islam“ und „Wertediktatur“ fallen in den Videos immer wieder. Auch LGBTQIA-Feindlichkeit gehört zum Web-Islamisten-Programm.
„Ich glaube, keiner muss darüber diskutieren, dass homosexuelle oder bisexuelle Praktiken im Islam absolut verboten sind. Uns muss aber klar sein, dass der Westen diese abscheulichen Praktiken in unserer Jugend normalisieren will, damit sich unser Islambild verzerrt. Wenn wir unsere Jugendlichen nicht davor schützen, werden diese Ideen zur Normalität“, sagt ein junger Muslim mit Hipster-Bart in einem Video von Muslim Interaktiv. Der Kanal mit seinen knapp 100.000 Followern wird von modus zad als islamistisch eingestuft und wurde am 23. Juni von Tiktok gesperrt. Die Betreiber haben mittlerweile einen neuen Kanal eröffnet. In nur drei Tagen erreichte Muslim Interaktiv wieder 6000 neue Abonnenten.
Aber nicht nur solche „Influencer Preacher“ konnten in den vergangenen Jahren ihre Reichweite steigern. Auch der Islamische Staat ist im Internet stark präsent. Seine Videos haben Youtube und die anderen Plattformen zwar gelöscht, Schnipsel kursieren aber immer noch in sozialen Medien. Sogenannte Micro-Influencer schneiden altes Material zusammen, unterlegen die Videos mit Musik und teilen sie auf Tiktok und Co. „Wir nennen das Do-it-yourself-Propaganda“, sagt der Sozialarbeiter Fabian Reicher. Dass der IS in sozialen Medien wieder populärer wird, liegt laut Reicher auch daran, dass heute 14-Jährige nicht mehr wissen, wie blutig und brutal der sogenannte „heilige Krieg“ des Islamischen Staates in den Jahren 2014 bis 2016 verlaufen ist. Wie viele Ausreiser zum IS damals als Kanonenfutter verheizt wurden.
Es ist ein schönes Gefühl, wenn dir jemand den Rücken stärkt. Diese extremistischen Gruppen wissen das und verlangen immer mehrSeelsorger Džemal Šibljaković
Auch Ahmad hat vor knapp zehn Jahren Antworten zum Islam im Internet gesucht. Irgendwann landete auch er in Telegram-Gruppen, wo er sich mit anderen IS-Sympathisanten austauschte. Aber sein Radikalisierungsprozess begann, wie bei den meisten Jugendlichen, lange bevor er das erste Propaganda-Video auf Youtube sah: In der Schule.
Als Ahmad vier Jahre alt war, flohen seine Eltern aus Tschetschenien in den 20. Wiener Gemeindebezirk. Dort erlebte der junge Bursch Rassismus. In der Schule wurde er immer wieder auf seine Herkunft angesprochen. Schrieb er eine gute Note in einer Deutschschularbeit, wollte seine Lehrerin wissen, wo er den Schwindelzettel versteckt habe. „Sie hat nicht geglaubt, dass ein Ausländer gute Noten schreibt.
Damit hat sie mir das Gefühl vermittelt, dass ich mich wieder aus Österreich verpissen soll“, sagt er.
Ahmad begann zu schwänzen. Er war in Schlägereien verwickelt. Hatte immer wieder Kontakt mit der Polizei, die ihn ungerecht behandelte, wie er findet. „Ich wurde am Tag drei bis viermal kontrolliert. Ohne Grund. Als die Beamten gesehen haben, dass ich keine Vorstrafen habe, haben sie mir nicht geglaubt. Sie sagten, ,ohne Vorstrafen bist du kein richtiger Tschetschene‘.“
Was Ahmad hier erzählt, ist schwer nachzuprüfen. Aber Erhebungen der EU-Grundrechteagentur FRA zeigen, dass Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund in Österreich öfter angehalten werden als andere. Solche Diskriminierungserfahrungen können schwere Folgen haben.
Moussa Al-Hassan Diaw, Gründer der Deradikalisierungsinitiative Derad, schreibt in einem Bericht der deutschen Hans-Seidel-Stiftung, dass 50 Prozent aller radikalisierten Straftäter das Gefühl von Marginalisierung erlebt haben. Dazu kommen Kanäle wie jene von el Azzazi oder Muslim Interaktiv, die ein „einseitiges und radikales Weltbild” verstärken. Auch Ahmad fühlte sich als Muslim mit Migrationshintergrund in Österreich unwillkommen und ausgegrenzt. Radikalisiert hat ihn damals aber nicht das Internet, sondern ein Gefängnisaufenthalt.
Im April 2014 verdächtigt die Polizei Ahmad, an einem Raubüberfall beteiligt gewesen zu sein. Der 14-Jährige kommt für sieben Monate in Untersuchungshaft. Seine Zelle in der Justizanstalt Josefstadt musste er mit IS-Sympathisanten teilen. Und das erste Mal seit langer Zeit wird er „wie ein König behandelt“, sagt er. Die Dschihadisten verteidigen ihn vor anderen Insassen und Wärtern. Sie machen für ihn die Zelle sauber und versorgen ihn mit Essen und allem, was er im Häfen braucht. Kurz gesagt: Sie geben ihm das Gefühl, ihn so zu akzeptieren, wie er ist.
Der IS und auch die radikalen Influencer instrumentalisieren den persönlich erlebten Rassismus der Jugendlichen. „Es ist natürlich ein schönes Gefühl, wenn dir jemand den Rücken stärkt, anstatt dir ständig Steine in den Weg zu legen. Das schafft ein Gemeinschaftsgefühl, das die Jugendlichen unter allen Umständen behalten wollen. Diese extremistischen Gruppen wissen das und verlangen immer mehr. Wer besonders anfällig ist, geht bis zum Äußersten und verübt schreckliche Attentate“, sagt der Gefängnisseelsorger Džemal Šibljaković. Bei Ahmad kommt es nicht zum Äußersten.
Nach sieben Monaten wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Der Tatverdacht habe sich nicht bestätigt. „Ich war unschuldig“, betont er. Die Staatsanwaltschaft konnte zu Ahmads Fall keine Auskunft geben. Sein Name scheint in keiner Datenbank auf. Das könne an einem Tippfehler liegen. Bei ausländischen Namen sei das nicht ungewöhnlich, sagt eine Sprecherin. Ahmads Sozialarbeiter bestätigten seine Geschichte jedenfalls.
Als der damals 15-Jährige wieder auf freiem Fuß ist, ist die Propaganda des IS schon tief in sein Hirn vorgedrungen. Er will mit seinen Brüdern in Syrien kämpfen. Erst der Imam, zu dem ihn sein Vater schickt, bringt den Burschen zum Nachdenken. Der Prediger liest Ahmad aus dem Koran vor, erklärt ihm, dass die gewalttätige Ideologie des IS nichts mit dem Islam zu tun hat. Der Bursche zweifelt immer stärker an dem, was ihm seine Gefängniskumpanen eingetrichtert haben. Irgendwann wendet er sich ganz ab.
Heute trägt der 24-Jährige selbst dazu bei, dass Jugendliche nicht auf die schiefe Bahn geraten. Mit beigem Fischerhut und aufgekrempelter Jean läuft er übers Donauinselfest und spricht mit einem „Festivalseelsorger“ darüber, wohin sich Besucher wenden können, wenn sie sich unwohl fühlen. Vom Polizisten Uwe will er wissen, wie sich Frauen vor K.-o.-Tropfen schützen können. Knapp 44.000 Menschen werden den beiden am Ende des Abends via Livestream zugeschaut haben.
Es sind Kanäle wie Cop und Che, die marginalisierten Jugendlichen ein Gegenangebot machen und so den radikalen Influencern den Wind aus den Segeln nehmen. „Wenn wir mehr Reichweite haben und den Diskurs bestimmen, dann kommen sie mit ihren Inhalten nicht mehr durch“, sagt Fabian Reicher, Sozialarbeiter bei der Beratungsstelle Extremismus. Und Reicher weiß, wovon er spricht. Der Mann hat Cop und Che sowie einige andere Social-Media-Kanäle mit aufgebaut. Die Online-Kampagne „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“ erzählte etwa, wie Jugendliche es geschafft haben, aus der dschihadistischen Szene auszusteigen. Fast 700.000 Mal wurden die Videos allein auf Youtube geklickt. Aber so erfolgreich wie die Erklärvideos von Cop und Che war bisher kein anderer Kanal.
Ahmad ist unter Wiener Jugendlichen mittlerweile eine Berühmtheit. „Das ist doch der Tiktoker“, flüstern zwei Burschen am Donauinselfest und zeigen mit dem Finger auf Ahmad. „Ich feier deine Videos“, ruft ihm ein Jugendlicher beim Vorbeigehen zu. Er könne eigentlich kaum noch durch Wien spazieren, ohne erkannt zu werden, meint Ahmad und grinst. Heute bekommt er die Anerkennung, die er so lange gesucht hat, von seinen Fans.