„Zwölftonmusik ist todlangweilig“

Der klassisch ausgebildete deutsche Bariton Thomas Quasthoff singt heute nur noch Jazz und was ihm sonst so Spaß macht – demnächst auch wieder in Wien. Ein Gespräch über Musik, Politik, Gott und die Welt

FALTER:Woche, FALTER:Woche 30/2023 vom 25.07.2023

Mit 63 funktioniere seine Stimme noch einwandfrei, meint Quasthoff: „Solange ich das den Leuten zumuten kann, werde ich auf der Bühne stehen“ (Foto: Gregor Hohenberg)

Im nächsten Jahr begeht Thomas Quasthoff sein fünfzigjähriges Bühnenjubiläum. Er wird dann erneut in Wien vorbeischauen, kann im Interview aber nicht sagen, wann und wo. Für 2024 ist der deutsche Sänger, der vor allem als Schubert-Interpret Weltruhm erlangte, aber auch als Opernsänger Erfolge feierte, komplett ausgebucht.

Dem Klassik-Betrieb hat der vierfache Grammypreisträger längst Ade gesagt. 2007 überraschte er die Hörerschaft mit seinem vom deutschen Trompeter Till Brönner produzierten Jazz-Album „Watch What Happens“, drei Jahre später erweiterte er sein Repertoire auf „Tell It Like It Is“ noch um Pop, Blues, Soul und Funk und erwies sich auch damit als geschmackssichere Stimmungskanone. Dass der Sänger mit der mächtigen Stimme nur 1,34 groß ist, liegt an der Conterganschädigung, mit der Quasthoff geboren wurde und über die er ganz offen spricht.

Anfang des Jahres gastierte der 63-Jährige im Wiener Jazzclub Porgy & Bess, nun tritt er mit dem Gitarristen Wolfgang Mayer und dem Posaunisten Shawn Grocott bei der Sommer Rhapsodie im Garten des Palais Liechtenstein auf.

Falter: Herr Quasthoff, in welchem Alter haben Sie denn begonnen, Jazz zu hören?

Thomas Quasthoff: Meine Güte, Sie fragen einen alten Mann. Ich würde mal sagen, um die zehn. Also ziemlich früh.

Welche Stilrichtungen haben Sie präferiert?

Quasthoff: Gehört habe ich so ziemlich alles. Schwer getan habe ich mir nur, als mein Bruder diese Free-Jazz-Phase hatte. „John Coltrane Live in Japan“ haben wir eigentlich nur aufgelegt, wenn wir meinen Vater ärgern wollten. Ich mochte Art Blakey wahnsinnig gerne, ich bin ein großer Cannonball-Adderley-Fan, und natürlich ist „Kind of Blue“ von Miles Davis eine meiner absoluten Lieblingsplatten.

Wie sieht es mit Sängerinnen aus?

Quasthoff: Ich verehre Shirley Horn. Die ist für mich die Kaiserin der Balladen. Wie gesagt: Ich habe mir so ziemlich alles angehört, bis auf die atonalen Geschichten. Da geht es mir in der Klassik allerdings ähnlich.

Schönberg und Webern sind noch okay?

Quasthoff: Finde ich todlangweilig! Ich kann’s nicht ändern. Musik muss mein Herz erreichen, und wenn die so konstruiert ist wie die Zwölftonmusik, tu ich mir damit wahnsinnig schwer. Ich habe Aribert Reimann gesungen (deutscher Komponist, Jg. 1936, Anm.), mich also schon auch mit so genannter „Neuer Musik“ befasst, aber nie mit ganzem Herzen.

Es ist wohl auch ziemlich aufwendig?

Quasthoff: Das kann man sagen. Sie sitzen hundert Stunden an einem Stück, singen es einmal und dann nie wieder. Das „War Requiem“ von Benjamin Britten habe ich in einer Woche gelernt, und das ist ein Stück, bei dem ich es heute noch bedauere, dass ich es nicht mehr singe. Britten hat auch modern komponiert und eine eigene Tonsprache gefunden, aber eine, die mich berührt. Oder nehmen Sie Schostakowitsch. Den liebe ich auch.

Nun, der war im Schatten Stalins auch eine echt tragische Figur.

Quasthoff: Und was für eine! Der hat nächtelang auf gepackten Koffern im Flur geschlafen, weil er nicht wollte, dass es seine Familie mitkriegt, wenn er verhaftet wird. Ich habe gerade einen Roman gelesen …

Julian Barnes’ „Der Lärm der Zeit“?

Quasthoff: Genau. Tolles Buch! Was ich sagen wollte: Meine musikalische Spannbreite ist eigentlich schon recht groß. Es gibt ein paar Tabus in meinem Leben …

Welche?

Quasthoff: Also Schlagermusik ist nicht meins, und das gilt auch für Volksmusik. Wobei ich Volkslieder sehr gern habe, aber nicht diesen nachgemachten Scheiß.

Wie würden Sie mit Ihrer künstlerischen Erfahrung den Unterschied zwischen Jazz und Klassik beschreiben?

Quasthoff: Ich weiß gar nicht, ob man das immer ins Verhältnis setzen muss.

Rein von der Gesangstechnik her betrachtet macht es keinen Unterschied, ob Sie Jazz oder Klassik singen?

Quasthoff: Doch, eindeutig. Schon alleine deswegen, weil Sie im Jazz ein Mikrofon haben. Als ich mit dem Jazz begonnen habe, habe ich ein neues Instrument gelernt, nämlich Mikrofon. Damit kann man viel leiser singen und viel freier mit dem musikalischen Material umgehen. Da können Sie einen Ton auch mal über zwei Takte ziehen, wohingegen Sie sich in der Klassik schon extrem eng an den Notentext halten müssen.

Warum haben Sie die klassische Musik denn aufgegeben?

Quasthoff: Vor zwölf Jahren ist mein Bruder mit 52 Jahren an Lungenkrebs gestorben, und ich hatte über zwei Jahre lang meine Stimme komplett verloren. Die war einfach weg. Und als klassischer Musiker plant man drei, vier Jahre im Voraus, da konnte ich die Leute auf Dauer nicht hinhalten. Also habe ich mich eben dazu entschlossen, mit der Klassik einfach aufzuhören.

Eine schwierige Entscheidung?

Quasthoff: Ich hätte in jedem Falle zu jenen gehört, die rechtzeitig wissen, wann Schluss ist. Ich kenne zu viele Kolleginnen und Kollegen, die es wesentlich früher hätten lassen sollen. Im Augenblick kann ich sagen: Meine Stimme funktioniert noch sehr gut, sie umfasst dreieinhalb Oktaven, und solange ich das den Leuten zumuten kann, werde ich auf der Bühne stehen, weil es einfach riesigen Spaß macht.

Man kann ja auch mit der Beschränkung arbeiten: Miles Davis war, technisch betrachtet, kein wahnsinnig toller Trompeter.

Quasthoff: Naja, ich wünschte, ich könnte so Trompete spielen, aber schon klar: Er war kein Dizzy Gillespie. Und man kann mit seiner Stimme natürlich allerhand anstellen. Neulich habe ich mit der großen Band auch gescattet, was ich sonst gar nicht mache – obwohl ich es kann. Es ergibt sich aber meistens nicht, weil wir tolle Instrumentalisten haben, die auch ihr Solo haben sollen, und ich mich da nicht in den Vordergrund drängen will.

Wie sind Sie denn zu dem Trio gekommen, mit dem Sie jetzt unterwegs sind?

Quasthoff: Das ist eine sehr schöne Geschichte. Ich hatte meine erste Professur in Detmold, und der Gitarrist, Wolfgang Meyer, hat den einzigen großen Musikalien- und Instrumentenladen dort. An einem verkaufsoffenen Samstag hat er dort live gespielt und mich eingeladen mitzumachen – mit dem Resultat, dass in Detmold nach einer halben Stunde nichts mehr ging, weil mehr als tausend Leute vor dem Laden standen.

Bei Ihrem Wienkonzert im Jänner haben Sie wiederholt gesagt, wie super Sie Ihre Kollegen finden.

Quasthoff: Die sind toll!

Ja, aber Sie haben auch betont, dass Sie die wirklich mögen.

Quasthoff: Ich könnte keine Musik mit Leuten machen, die ich nicht mag!

Ist Ihnen nie passiert?

Quasthoff: Ein einziges Mal. Das war der große Dirigent – Gott hab’ ihn selig – Lorin Maazel. Man sagt ihm, „können wir das bitte an der Stelle ein kleines bisschen langsamer machen, die Geigen kommen da nicht mehr mit“, und er antwortet „ja“ und macht es am nächsten Tag noch schneller. Das fand ich einfach nur egomanisch und ekelhaft. Mit Leuten, denen es nicht mehr um die Musik, sondern nur noch um Macht geht, mag ich nicht musizieren.

Sie weisen bei Ihren Auftritten auch immer wieder darauf hin, dass Sie die Jazzgeschichte nicht neu schreiben wollen.

Quasthoff: Nein, wirklich nicht. Das können andere besser. Ich will auch gar keine Musik schreiben, sondern das singen, was mir gefällt und mir Spaß macht.

Die Jazz-Polizei hat Sie nie bekrittelt?

Quasthoff: Als ich mit Jazz begonnen habe, kamen absurde Vorwürfe. Dass ich mit Vibrato singen würde etwa. Ja, Leute, dann hört euch doch Ella Fitzgerald oder Sarah Vaughan an – die singen mit sehr viel mehr Vibrato als ich! Zuerst hat mich das geärgert, aber dann habe ich mir gesagt: Rutscht mir doch den Buckel runter! Wenn es euch nicht gefällt, müsst ihr ja nicht ins Konzert gehen. Ich singe auch „Imagine“. Und zwar nicht, weil ich das für ein grandioses Jazz-Stück halte, sondern weil es traurigerweise noch immer aktuell ist. Ich bin ein sehr politischer Mensch und habe auch die internen Wahlvorgänge der SPÖ mit Belustigung verfolgt: Das war ja Live-Kabarett!

Mir hat es eher wehgetan.

Quasthoff: Na, entschuldigen Sie: Die österreichische Politik tut mir schon seit langem weh. Der einzige Vernünftige bei euch scheint euer Staatspräsident zu sein.

Als Mitglied der SPÖ musste man halt in den letzten Jahren viel leiden.

Quasthoff: Das habe ich mir immer erspart. Gerhard Schröder hätte mich sehr gerne als Mitglied in der SPD gehabt. Aber wenn ich mir heute ansehe, was der so treibt – er feiert Partys mit AfD-Leuten –, müsste ich mich dafür in Grund und Boden schämen. Mit solchen Leuten möchte ich nichts zu tun haben.

Ich finde, dass etablierte Künstler geradezu die Verpflichtung haben, auch politisch Flagge zu zeigen
Thomas Quasthoff

Sie äußern sich aber politisch?

Quasthoff: Ich habe in fast allen meinen Konzerten bei bevorstehenden Wahlen gesagt: „Meine Damen und Herren, tun Sie mir bitte den Gefallen, und wählen Sie so, dass ich mich als Künstler im Ausland nicht schämen muss.“ Zwei Tage nach einem Konzert in Frankfurt kriegte meine Agentur eine E-Mail mit der Adresse adolfhitler.de mit der entsprechenden Botschaft. Sie können das ja nicht verfolgen, diese Dreckschweine stornieren ihre Adressen ja sofort wieder. Aber es hält mich nicht davon ab, meine Meinung zu artikulieren, und ich finde, dass etablierte Künstler geradezu die Verpflichtung haben, auch Flagge zu zeigen.

Sie thematisieren bei Konzerten Ihre Behinderung, die Sie auch so nennen. Welchen Ressentiments sind Sie in diesem Zusammenhang begegnet?

Quasthoff: Eigentlich gar keinen. Nur wollen viele Journalisten, speziell in den USA, vor allem über meine Behinderung reden. Da frage ich dann schon, ob sie mich für ein Behindertenmagazin interviewen oder deswegen, weil sie mich für einen bemerkenswerten Künstler halten. Echte Ressentiments habe ich eigentlich nur 1988 beim ARD-Wettbewerb erlebt, als ich mich gerade einsang und ein Konkurrent den Raum betrat, der meinte: „Ach, dürfen hier jetzt auch Behinderte mitmachen?“ Worauf ich geantwortet habe: „Meinst du dich oder mich?“ Er flog dann auch in der zweiten Runde raus, und ich habe gewonnen. Das hat mir schon eine gewisse Genugtuung bereitet.

Fachliche Kritik von Kollegen ist für Sie in Ordnung?

Quasthoff: Ja. Ich nehme mir auch das Recht dazu heraus, aber man braucht niemanden zu diskreditieren. Jedenfalls bin ich froh, dass ich in der Klassik nichts mehr verloren habe. Der ganze Markt hat sich auf eine Weise entwickelt, die mir nicht gefällt. Wenn mir, der nächstes Jahr sein fünfzigjähriges Bühnenjubiläum begeht, ein Fortysomething erklären will, wie das Musikbusiness funktioniert, denke ich mir bloß: „Mhm. Soso.“ Es werden Leute unter Vertrag genommen, weil sie gut auf dem Cover aussehen. Das ist nicht mehr meine Welt.

Was war denn Ihr Erstauftritt?

Quasthoff: Den hatte ich noch als Alt, also kurz vor dem Stimmbruch, mit einem Solo in einer Messe von Buxtehude – mein erstes bezahltes Konzert.

Apropos Messe: Sie sind wohl weltweit der einzige Mensch, der die Atheismus-Hymne „Imagine“ und die „Matthäus-Passion“ gesungen hat.

Quasthoff: Das stimmt.

Da muss ich schon die Gretchenfrage stellen: Wie halten Sie’s mit der Religion?

Quasthoff: Würde es Ihnen genügen, wenn ich sage: „Ich glaube an die Liebe“? Dafür brauche ich keinen Gott. Und wenn es einen gäbe, könnte ich nur sehr schwer nachvollziehen, dass es Kriege gibt. Und mit jungfräulicher Geburt und solchem Schmarren hab ich auch nicht viel an der Mütze.

Im Porgy & Bess hatte Sie eine Gesangsperformance, in die auch das Wiener Idiom eingeflossen ist. Warum haben daran so viele Deutsche einen Narren gefressen?

Quasthoff: Für mich hat der Wiener Dialekt unglaublich viel mit Gemütlichkeit zu tun. Wenn ich den höre, kommt automatisch die Assoziation Heuriger, Zusammensitzen, Lebensfreude.

Wie würden Sie als Musiker das Wienerische charakterisieren?

Quasthoff: A bissl breit und immer bissl Zucker oben drauf. Die Wiener können vordergründig auch sehr höflich sein. Den Berlinern sind Höflichkeitsfloskeln viel zu anstrengend. Da habe ich neulich eine großartige Szene im Taxi erlebt. Als der Fahrer beim vierten Mal, mit bereits abgestelltem Taxameter, an der gleichen Stelle vorbeifuhr, sagte ich: „Gucken Sie, da vorne steht ein Polizist. Wollen wir den nicht einfach mal nach dem Weg fragen?“ Worauf der mich anlächelt und sagt: „Bevor ick ’n Bullen nachm Weg frage, verfahr’ ick mir lieber.“ Das ist Berlin! Und das liebe ich. Ich bin unheimlich gerne in Wien, ich würde aber dort nicht leben wollen. Die direkte Art der Berliner liegt mir näher.

Sie haben zuletzt in Wien sogar eine Parodie auf den Ex-Fußballer Andreas Herzog zum Besten gegeben. In Ihnen steckt offenbar ein Kabarettist?

Quasthoff: Als meine Stimme noch nicht so ganz fit war, habe ich tatsächlich vier Jahre lang mit einem Freund Kabarett gemacht und sogar mal am Berliner Ensemble Theater gespielt.

Was denn?

Quasthoff: Shakespeares „Was ihr wollt“ unter der Regie von Katharina Thalbach. Übrigens habe ich grad ein Angebot aus Wien abgelehnt. Ich hatte die Einladung, an der Uraufführung eines Stückes im Theater in der Josefstadt mitzuwirken.

Warum haben Sie abgelehnt?

Quasthoff: Es war die Rolle eines Zwergs, und die wollte ich nicht.

Kann ich verstehen.

Quasthoff: Nein, das ist schon in Ordnung. Die haben mich gefragt, ich hab mir das Stück durchgelesen und gefunden, dass es nicht meins ist.

Auf Ihrem zweiten Jazz-Album haben Sie „Short People“ gecovert, einen Klassiker des US-Songwriters Randy Newman.

Quasthoff: Na, wenn jemand die Berechtigung hat, das zu singen, dann wohl ich. Wir haben damals übrigens sogar bei Randy Newman angerufen, um uns zu erkundigen, ob er mitsingen würde. Er hat sich nach vier Tagen telefonisch zurückgemeldet und gefragt, ob ich einen Vogel hätte. Mit jemandem, der so gut singen könne wie ich, würde er sich das doch nie trauen. Das fand ich total süß. Ich bin ein ganz großer Randy-Newman-Fan.

Herr Quasthoff, mir gehen langsam​ die Fragen aus.

Quasthoff: Wissen Sie, wen ich noch kennengelernt habe, und zwar in Wien? Im Rahmen eines Open-Air-Festivals ist da auch John Cleese aufgetreten …

… der britische Komödiant und Monty-Python-Mitbegründer …

Quasthoff: … Wie ich zur Anspielprobe des Konzerts gehe, kommt mir der plötzlich entgegen, legt mir die Hand auf die Schulter und sagt: „I’m one of your biggest fans.“ Da ist mir vor Stolz das Hemd dann doch etwas eng geworden.

Thomas Quasthoff, 1959 in Hildesheim geboren, war nach Gesangsausbildung und abgebrochenem Jus-Studium in der Bank, als Kabarettist und Jazzsänger tätig. Ende der 1980er gelang ihm der internationale Durchbruch, vor allem als Interpret von Bach, Schubert und Mahler. 2006 wandte sich der vierfache Grammy-Preisträger wieder dem Jazz zu. Das klassische Fach hat Quasthoff längst aufgegeben, er unterrichtet aber nach wie vor Gesang an der Hochschule Hanns Eisler in Berlin

Live: Palais Liechtenstein, Mo, 19.30

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