„Ich komme aus der Ballroom-Szene, Bitch!“

Der Ex-Marine, Fotograf und Regisseur Elegance Bratton über seinen autobiografischen Film „The Inspection“

Julia Pühringer
FALTER:Woche, FALTER:Woche 33/2023 vom 15.08.2023

Der schwule Rekrut Ellis French (Jeremy Pope) muss Ausgrenzung und Schikanen ertragen, einzig Sergeant Rosales (Raúl Castillo) scheint ihm zugewandt (Foto: Patti Perret/A24/X-Verleih)

Der US-Film „The Inspection“ erzählt die Geschichte eines jungen, schwulen Obdachlosen, der zu den Marines geht. Es ist ein ungewöhnlicher Blick auf das klassische Genre des Militärfilms: Die aufreibende körperliche Ausbildung, die Gnadenlosigkeit von Vorgesetzten und Gruppendynamiken kommen zwar vor. Wichtiger aber sind die Fragen nach den Gründen, zur Armee zu gehen, seinen Körper zu verkaufen – und danach, was es bedeutet, ein schwuler Mann zu sein, ein Mensch, ein Soldat. Elegance Bratton selbst entkam bei den Marines der Obdachlosigkeit und landete über diesen Umweg auch beim Film.

Falter: Herr Bratton, viele Filme über die Armee reproduzieren, was sie kritisieren. Sie zeigen das Hässliche und haben doch einen zärtlichen Blick. Wie gelingt das?

Elegance Bratton: „The Inspection“ ist weder für noch gegen das Militär. Natürlich ist die Hauptfigur Ellis ein bisschen mein Alter Ego. Menschen mit meinem Hintergrund machen oft Sexarbeit, weil sie nichts anderes zu verkaufen haben außer sich selbst. Als ich dem Marine Corps beitrat, wurde mir klar: Das ist exakt dasselbe. Sexarbeiter zahlt man ja auch nicht für den Sex, sondern dafür, dass sie die Klappe halten. Marines werden nicht dafür bezahlt, Leute umzubringen, sondern dafür, es geheim zu halten.

Wie und warum sind Sie selbst überhaupt zum Militär gekommen?

Bratton: Damals war ich total am Boden. Meine Mutter hatte mich rausgeworfen, weil ich schwul war, und ich lebte zehn Jahre auf der Straße. Da ist man unsichtbar und extrem sichtbar zugleich: Oft fühlt es sich an, als sähe man nur dich – oder die Leute gehen an dir vorbei, als wärst du ein Gespenst. Bei der Marine hatte ich zum Glück einen Rekrutenausbilder, der mir beibrachte, dass ich etwas wert bin und eine Aufgabe im Leben habe, nämlich den Marine zu meiner Linken und zu meiner Rechten zu beschützen. An dieser Verantwortung und diesem Vertrauen habe ich mich aufgerichtet.

Solidarität wird im Kino nicht oft erzählt.

Bratton: Die Figur von Ellis French hat im Film eine radikale und kämpferische Empathie. Er glaubt, schwul zu sein wäre seine größte Schwäche und zu den Marines zu gehen würde das noch verschlimmern. Aber dann ist er dort und ihm wird klar: „Das ist wie Drag! Und Drag kann ich!“ Diese Kluft zwischen dem, was man ist, und dem, was man darstellen muss, beherrscht er besser als alle anderen. Heute gibt es einen riesigen Backlash in Amerika, manche Kräfte wollen uns zurück in die 1950er katapultieren. Man muss sich jedes bisschen Tageslicht erkämpfen und wird zum Gestaltwandler. Ich heiße Elegance. Noch bevor ich überhaupt den Raum betreten habe, sind dadurch sowieso alle immer davon ausgegangen, dass ich schwarz und schwul bin.

Und ausgerechnet Ihre Mutter, die Sie wegen Ihrer Homosexualität rausgeworfen hat, gab Ihnen diesen Namen?

Bratton: Ich wünschte, ich könnte das besser verstehen. Sie war die erste Person, die mich komplett geliebt hat, und die erste Person, die mich komplett abgelehnt hat. Wir haben 20 Jahre lang nicht miteinander gesprochen. Als sie starb und ich ihre Wohnung räumen musste, hatte sie alle Artikel über meine Kurzfilme aufgehoben. Ich weiß nicht, warum sie mir nicht sagen konnte, dass sie stolz auf mich war – offensichtlich war sie es. Allerdings war sie selbst mit zwölf Jahren schon Waise. Wie kann man etwas weitergeben, das man selbst nie bekommen hat?

„The Inspection“ ist zu 100 Prozent autobiografisch in Bezug auf die Hauptfigur, ihre Hoffnungen und Ängste
Elegance Bratton

War es leichter oder schwieriger, einen Film über die eigene Geschichte zu machen?

Bratton: „The Inspection“ ist zu 100 Prozent autobiografisch in Bezug auf die Hauptfigur, ihre Hoffnungen und Ängste. Manche haben mich deshalb von oben herab behandelt, weil ich „nur“ meine eigene Geschichte erzähle, aber ehrlich, ich komme aus der Ballroom-Szene, Bitch! Mir braucht man nicht so zu kommen. Es geht letztlich nicht darum, Fakten nachzubauen, es geht um die Essenz einer emotionalen Wahrheit. Natürlich ist das schwierig, wenn die Leute dann über die Figuren reden und du denkst dir: Hey, wir reden da über mich!

Wie haben Sie die großartige Besetzung gefunden? Hatten Sie da eine Art Wunschzettel?

Bratton: Definitiv! Ich wollte Jeremy Pope, der auch am Theater erfolgreich ist, seit ich ihn in Ryan Murphys Serie „Hollywood“ gesehen habe. Dass French von einem schwarzen queeren Schauspieler dargestellt werden muss, stand von Beginn an fest. Als ich aufwuchs, waren schwarze queere Menschen nie die Helden eines Films, sondern immer nur Accessoires, wie Handtaschen oder komische Nebenfiguren. Und natürlich wird so ein Projekt ohne einen Superstar wie Gabrielle Union an Bord gar nicht finanziert. Sie war meine wichtigste Verbündete, hat im Film den Schmuck meiner Mutter getragen und die Bibel meiner Mutter verwendet. Und Bokeem Woodbine natürlich – ich war kurz davor, einen weißen Typen als Ausbildner zu casten, aber dann hörte ich, dass er die Rolle will. Er war mein Highschool-Crush!

Ab Fr in den Kinos (OmU im Votiv)

Eine Kritik zum Film finden Sie auf Seite 41

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