Rentierknochen als Inspiration: Bissiges Portal im Goldenen Quartier

FALTER:Woche, FALTER:Woche 34/2023 vom 22.08.2023

Fünf Meter ragt eine neue rosa Skulptur in der Fußgängerzone des Wiener Grabens empor. In den Langteilen, die zusammen ein Oval bilden, stecken weiße Zähne. Die temporäre Arbeit, die von Kunst im öffentlichen Raum Wien (KÖR) ausgewählt wurde, stammt von der estnischen Künstlerin Kris Lemsalu. Ihr Titel „Chará“ stammt aus dem Altgriechischen und heißt übersetzt „Freude“. Pastellfarbe und Herzform mögen diesem positiven Titel entsprechen, aber Lemsalus Teil sieht schon eher schaurig aus.

Als Vorbild diente der Bildhauerin ein von einer Freundin in der Natur gefundener Rentier-Kiefer samt Backenzähnen. Überreste von Tieren sind meist kein schöner Anblick, dennoch haben Federn, Pelze oder Knochen die moderne Kunst immer wieder inspiriert. So etwa die Schädel und Geweihe, die die Künstlerin Georgia O’Keeffe ab den 1950er-Jahren in New Mexiko für ihre Stillleben wählte. Von der US-Malerin stammen auch großformatige Zooms auf Blüten, die – entgegen ihrer Intention – als XL-Anspielungen auf das weibliche Geschlechtsteil interpretiert wurden. Wer Lemsalus feministische Kunst kennt, wird bei ihrem neuen Monument auch an die „Vagina dentata“ denken, den Schoß mit Zähnen. Sigmund Freud hat dieses Bild aus Mythen und Sagen mit der männlichen Kastrationsangst in Zusammenhang gebracht. Dass ein solches Genitalgebiss auch als Schutz oder Waffe gegen Vergewaltiger beschrieben wurde, hat Freud in seiner Deutung ignoriert. Das Bild steht also nicht nur für weibliche Aggressivität, sondern auch für den Wunsch nach femininer Wehrhaftigkeit.

Abgesehen von der Gender-Thematik spielen Mythologie und Schamanismus im Schaffen der 1985 geborenen Künstlerin eine besondere Rolle. Im Vergleich zu ihren lebensgroßen Figuren aus Keramiken, bunten Stoffen und Pelzen oder den schrägen Kostümen, in denen Lemsalu selbst auftritt, fällt „Chará“ reduzierter, ja strenger aus. Einer der Backenzähne ist grau gefärbt – eine Krone oder Plombe? Zum Glück nicht aus Gold, wie es im Umfeld von Gucci, Prada & Co fast aufgelegt wäre.

Graben, bis 8.11.

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