Die Heilige der Ekstase

Die Berliner Schauspielerin und Tänzerin Anita Berber, das It-Girl der Avantgarde, erlebte im Wien der 1920er den Höhepunkt ihrer Karriere – wie ein Ausstellung bei Bonartes zeigt

FALTER:Woche, FALTER:Woche 35/2023 vom 29.08.2023

Süchtig nach Drogen und Leben, war Anita Berber (1899–1928) das Riot Girl der 20er-Jahre. Und wenn das Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg als exzessive Dekade in Erinnerung bleibt, dann repräsentiert Berber die Galionsfigur der Grenzüberschreitung. Sie setzte sich im Kaffeehaus den Schuss und lebte offen ihre Sexualität aus, mit Männern und Frauen, aus Liebe oder gegen Bezahlung. Nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten, begann in den 1980ern eine Wiederentdeckung. Seither gilt Berber als Pionierin von Queerness und Performance.

Eine Ausstellung im Photoinstitut Bonartes beleuchtet ihre Wiener Phase. Von 1920 bis 1923 weilte die Berliner Tänzerin monatelang in der Stadt und arbeitete hier mit Verlegern, Filmproduzenten, Modedesignern und der Fotografin Madame d’Ora (Dora Kallmus) zusammen. Hier fand auch der Höhepunkt ihrer Karriere statt. Gemeinsam mit dem Tänzer Sebastian Droste (1898–1927) führte Berber die Revue „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ auf. Nach der Premiere im November 1922 rissen sich weitere Veranstalter um die Show, die bis Jänner 1923 jeden Abend gezeigt wurde.

Die Kuratorin Magdalena Vuković stellt nicht die in mehreren Biografien ausgebreiteten Skandalstorys, sondern die Künstlerin in den Vordergrund. Vuković vermittelt Berber als Teamworkerin, die gemeinsam mit dem Partner Sebastian Droste Tabuthemen ins Rampenlicht rückte. Die Nummer „Selbstmord“ etwa handelt von einem Homosexuellen, den seine Umgebung in den Freitod treibt. Ihre eigene Sucht verpackte Berber wiederum in „Morphium“, einer Szene, in der sie sich eine Spritze setzte und ins Delirium fiel.

Von der Aufführung blieben keine Fotos erhalten, aber Entwurfzeichnungen geben eine Vorstellung: Scheinwerfer tauchten die Körper in ein flackerndes, gelbes Licht. Das Bühnenbild erzeugte durch perspektivische Verzerrungen den Eindruck eines expressionistischen Films. Die despektierlich als „Revuegirl“ kolportierte Berlinerin zeigt sich hier als Künstlerin auf der Höhe der modernen Zeit.

Drogenrausch und Libertinage wanderten durch das Role Model Anita Berber von der Bohème in den Salon

Ähnlich kalkuliert war die Zusammenarbeit mit der Fotografin Dora Kallmus, die eines der ästhetisch avanciertesten Ateliers Wiens betrieb. Hier entstanden ab 1920 Aufnahmen für Mode- und Filmzeitschriften. Im Studio inszenierte sich Berber als gefährliches Luxusgeschöpf. Mit ihrem verruchten Image spielend, übersetzte sie das Klischee der Femme fatale in eine trendige Attitüde. Drogenrausch und Libertinage wanderten durch das Role Model Berber von der Bohème in den Salon.

Die bekannteste Aufnahme Berbers zeigt die nackte Tänzerin, die, auf dem Boden kniend, den mit einem Lendenschurz bekleideten Droste umfasst. So übersetzen die beiden die Bühnenekstase in ein prägnantes Bild, das Erotik mit religiöser Verzückung verbindet.

Bald nach dem Wien-Aufenthalt erschien im Gloriette-Verlag ein Buch über „die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, in dem zahlreiche Bildnisse aus dem Atelier d’Ora abgebildet sind. Berber zeichnete das Cover und morphte dafür ihre Gesichtszüge mit jenen des Partners Droste, was als Bekenntnis zur Androgynität interpretiert werden kann.

Doch auch das Wiener Publikum interessierte sich mehr für den Skandal als für Subtilität. In einer Zeit der Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot löste Berber eine Flut von teils begeisterten, teils empörten Artikeln aus. Ein in der Ausstellung gezeigtes Titelbild der Wiener Zeitschrift Filmwelt zeigt die verruchte Tänzerin neben einem bekannten Boxer als Beispiel für den kulturellen Niedergang: „Die beiden sind ein Spiegelbild der heutigen, von gewissen Filmerzeugern geförderten allgemeinen Sensationsgier“, heißt es im begleitenden Kommentar.

Berber blieb nicht viel Zeit, ihre Karriere voranzutreiben. Noch keine 30 starb sie 1928 nach einem Amerika-Aufenthalt in Hamburg an Tuberkulose. Sogar die Nachrufe bedienten den Voyeurismus der Leserschaft. Ein Aktfoto aus dem Atelier d’Ora illustrierte „den Tod einer exzentrischen Tänzerin“.

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