Gierig auf den Galgen: Die Wut auf die Justiz

Rechte Protestmeuten, zurückgelassene Opfer und ein sprachloser Rechtsstaat. Nicht nur der Fall Teichtmeister zeigt, wie brüchig der Konsens über das moderne Sexualstrafrecht geworden ist. Wo führt das hin?

Politik, FALTER 37/2023 vom 12.09.2023

Teichtmeister-Anwalt Rudolf Mayer mit Bodyguards im Foyer des Schwurgerichtssaales: „So schlimm war es noch nie“ (Foto: Florian Klenk)

Nur wenige Schritte vom Schwurgerichtssaal entfernt stellten sie ihm einen Würgegalgen auf. Ein Hilfsarbeiter legte der „Bestie“, wie sie ihn nannten, den Strick um den Hals und nur wenige Minuten später war Johann Trnka, 38, tot. Seine Hinrichtung war die letzte im Wiener Straflandesgericht. Sie erfolgte am 24. März 1950, Bundespräsident Karl Renner hatte dem Raubmörder die Begnadigung versagt.

In der Nähe dieses Hinrichtungshofes, in der Wickenburggasse, stand am vergangenen Dienstag wieder ein Galgen, ein Demonstrant hatte ihn gezimmert, angeblich als „künstlerische Intervention“. Die Polizei durfte das Mordgerät nicht beschlagnahmen, weil es Ausdruck der „Versammlungsfreiheit“ sei und keine gefährliche Drohung.

Dabei war in den Querbalken in blutroten Lettern „Teichtmeister“ graviert. Das ist der Nachname jenes Ex-Burgschauspielers, der wegen des Besitzes und der Bearbeitung von „pornografischen Gewaltdarstellungen mit Unmündigen“ an diesem Tag zwei Jahre Freiheitsstrafe ausgefasst hat, bei einer Höchststrafe von drei Jahren.

Zusätzlich wies ihn das Gericht in eine Anstalt für „geistig abnorme Rechtsbrecher“ ein. Die Freiheitsbeschränkung wird ihm unter der Bedingung nachgesehen, dass Teichtmeister fünf Jahre strenge therapeutische Auflagen befolgt. Dann muss er nie hinter Gitter. Strafrechtsexperten fanden das Strafmaß korrekt. Dem Druck der Straße, so urteilte Richter Stefan Apostol, hat sich das Gericht nicht gebeugt.

Illustration: Georg Feierfeil

Foto: Screenshot X/Dominik Nepp


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Bei so einem Urteil, twitterte Wiens FPÖ-Chef und Ex-Vizebürgermeister Dominik Nepp, dürfe man sich nicht wundern, wenn das Volk „zur Selbstjustiz“ greife. Die Sippenhaft ist schon vollstreckt. Nur drei Tage vor dem Prozess haben Demonstranten auch in Niederösterreich einen Galgen aufgestellt. Sie trugen die Attrappe – trommelnd, Fahnen schwingend, Kuhglocken um den Hals – vor das Haus von Teichtmeisters Mutter.

Der Anführer der Meute, der Corona-Maßnahmen-Gegner Martin Rutter, brüllte ins Megafon, Kinderschänder würden von „linken Politikern“ geschützt. Ein beliebtes Narrativ der QAnon-Szene, bekannt aus dem US-Wahlkampf Donald Trumps.

Galgen, Meuten, Verschwörungsmythen und all das im Namen der Opfer: Die verstörende Tat und die pädosexuellen Fantasien Teichtmeisters waren erschreckend. Beunruhigend sind aber auch die Protestformen und das Verständnis für die Volkswut bei Politikern, nicht nur rechts der Mitte. Das Urteil sei zu milde, kommentierte ÖVP-Innenminister Gerhard Karner.

Die Strafe gehöre verdoppelt, legte ÖVP-Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm nach. Sie wunderte sich schon vor dem Prozess, wieso Teichtmeister (geständig, in Therapie) überhaupt in der Innenstadt „verkehren“ dürfe. Selbst die grüne Justizministerin Alma Zadić betonte, den Entwurf für eine Strafverschärfung bereits vorgelegt zu haben.

Nur einer hielt dagegen: Richter Stefan Apostol. Er setzte sein Barett auf und würdigte das „Hängt ihn höher!“-Geschrei, wie er es nannte, als Strafmilderungsgrund. „Wenn die sozialen Folgen einer Tat schon Strafcharakter haben, kann ein Gericht dies bei der Zumessung der Sanktionen berücksichtigen“, so das Gericht.

Galgen mit der Aufschrift „Teichtmeister“ vor dem Landesgericht: „Dieser verfickte Rechtsstaat“ (Foto: Heribert Corn)

„Irgendwas rutscht da gerade“, sagt Rudolf Mayer, der Verteidiger Teichtmeisters, „und die Politik hält nicht dagegen. Im Gegenteil, die Politiker rutschen mit, die verbale Gewaltspirale dreht sich immer schneller.“

Natürlich muss ein Verteidiger das sagen. Aber Mayer, 75, der Doyen der Wiener Strafverteidiger-Szene, kann es auch belegen. Immer wieder stand er dafür im Feuer, sogenannte „Bestien“ vertreten zu haben (Fall Fritzl, Fall Blauensteiner). Immer wieder wollten Menschen nicht verstehen, dass ein Verteidiger im Ritual des Strafverfahrens die Rechte eines Tatverdächtigen verteidigt, aber nicht dessen Verbrechen. Aber so aggressiv wie im Fall Teichtmeister, sagt Mayer, war die Hetze noch nie. Schon der Beginn des Prozesses verlief ungewohnt und im Schatten einer vielstimmigen Hetzmeute.

Im Großen Schwurgerichtssaal waren die Reihen dicht besetzt, sogar oben auf dem Besucherbalkon, der „Galerie“, drängte sich das Volk wie bei einer Burg-Matinee. Die alten Schwurgerichte gleichen Theatern, mit Foyers, Galerien und Stehplätzen. Das Volk, so die Idee, soll schweigend dabei zusehen dürfen, wie Wahrheit rekonstruiert und Unrecht sanktioniert wird. Nicht nur das. Das Volk darf auch auf der Richterbank Platz nehmen, als Laienrichter. Schöffen werden per Zufall aus dem Wählerverzeichnis gewählt, im Fall Teichtmeister sind es zwei Frauen. Sie urteilen gleichberechtigt mit Berufsrichtern.

Gleich zu Beginn zitiert der Richter Teichtmeister zu sich an die Richterbank, um die persönlichen Daten flüsternd aufzunehmen, offenbar aus Schutz vor der Galerie. Auffallend ist auch, dass in den ersten zwei Reihen im Publikumsbereich des Saales nur vier Profiboxer saßen. Teichtmeisters Anwalt Rudolf Mayer, mit seinen 75 Jahren selbst noch aktiver Faustkämpfer (Superwelter, 72 Kilo), hatte die Freunde aus seinem Boxclub herbeordert, weil er in der Nacht mit dem Tode bedroht worden war und der Polizei offenbar nicht zutraute, schnell genug zu sein, „wenn einer mit einer Eisenstange auf uns zuläuft“. Selbstschutz gegen Selbstjustiz? Oder nur eine Inszenierung, um Teichtmeister als armes Opfer darzustellen?

Mayer schickt dem Falter die Drohbriefe der letzten Tage: Teichtmeister müsse „neutralisiert“ werden, schreibt ihm der Herr Franz aus Wien per E-Mail. Ein anderer droht: „Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihr Grab besuchen und es würdigen werde, wie Sie es verdienen.“ Und ein Anonymus namens „Killteichtmeister“ mailt an Rudolf Mayer: „In den guten alten Zeiten hat man solche Menschen einfach zerhackt, nur heute in diesem verfickten Rechtsstaat kriegt sogar ein Terrorist die Möglichkeit, sich zu verteidigen.“

Teichtmeister auf der Beschuldigtenbank, Demonstranten vor dem Landesgericht: „In den guten alten Zeiten hat man solche Menschen einfach zerhackt“ (Foto: Heribert Corn)

Der „verfickte Rechtsstaat“ und die „guten alten Zeiten“. Man muss nur ein paar Schritte aus dem Schwurgericht treten, um zu sehen, wie dünn die Kruste der Zivilisation selbst hier im Reich des Rechts ausgebildet ist. Vor gar nicht langer Zeit wurden auch im Wiener Straflandesgericht Menschen „einfach zerhackt“. Im Saal 47C etwa, der zwischen 1938 und 1945 den Galgenhof ersetzte. Bis zum Jahr 1945 stand hier das „Gerät F“, das Fallbeil, mit dem Wiens NS-Richter hinrichteten, bis zu 30 Menschen pro Tag, darunter ein 16-jähriges Mädchen und eine 71-jährige Frau. Viele Besucher des Teichtmeister-Prozesses gehen an dem Saal vorbei, vielleicht auch ohne zu ahnen, wie jung das aufgeklärte Strafrecht ist.

Erst 1968 wurde in Österreich die Todesstrafe abgeschafft. Bruno Kreiskys sozialistischer Justizreformer Christian Broda hatte das Strafrecht in den 70ern endlich reformiert und humanisiert, er setzte eine Generation der Reformer in die Institutionen. Nicht Abschreckung durch Dunkelhaft und harte Kost sollte das Ziel des Strafvollzugs sein, wie damals noch gesetzlich normiert, sondern Resozialisierung oder Therapie für „geistig Abnorme“ wie bei Teichtmeister. Die 70er-Jahre brachen mit der Tradition der Körperstrafen, die bis zum Beginn der Menschheit zurückgeht .

Geraten diese Errungenschaften in Verschütt? Und wenn ja, warum? Löst ein als immer schwächer empfundener Staat das Versprechen der Herstellung des Rechtsfriedens noch ein? Erleben wir eine allgemeine Vertrauenskrise in den Staat, die nun auch die kaputtgesparte Strafgerichtsbarkeit trifft? Und ist es wirklich nur Rache, die die Wut der Leute nährt, wenn sie der Justiz im Teichtmeister-Fall zusehen?

Nicht nur in seinem Fall erleben wir, wie Fragen zum Strafvollzug, zum Medienrecht, zur Schuldfeststellung von Verdächtigen in einer durch Social Media vernetzten, gereizten Gesellschaft neu verhandelt werden. Und wir sehen, wie auch jene Parteien, die populistischen Verlockungen widerstanden haben, einknicken. Sogenannten „Volkszorn“ gab es immer schon, vor allem bei Verbrechen, die sich gegen Kinder oder Schutzlose richteten. Das ist nicht neu. Die Bestrafung des Täters diente immer auch der Besänftigung der Meute. Aber wer in linken und rechten digitalen Echokammern mitliest, der vernimmt mehr als nur archaische Wut, etwa Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Da ist etwa ein gesteigertes Misstrauen gegen Polizei, Richterschaft und Anklagebehörde zu vernehmen. Und ein Unverständnis gegenüber jenen modernen Sanktionen, die Expertinnen und Experten in den letzten 50 Jahren für angemessen erachtet haben, um etwa Sexualstraftäter zu behandeln.

Der Blick auf das Sexualstrafrecht ist in einer Gesellschaft, in der – via digitale Medien – zunehmend auch das Opfer ins Blickfeld rückt, verändert worden. Nicht die Schuld des Täters und seine Therapie stehen im Fokus, sondern die Nöte seiner Opfer, die sich im Stich gelassen oder nicht ernst genommen fühlen und sich im Internet mit anderen vernetzen. Auch die Arbeit der Behörden wird viel intensiver diskutiert und kontrolliert. Jeder darf mitreden. Und im Grund ist das ja einmal ein Fortschritt: Nur allzu oft haben Opfer vor Gericht den Kürzeren gezogen. Das ist einerseits unvermeidlich, weil im Strafprozess im „Zweifel für den Angeklagten“ zu entscheiden ist. Ein Freispruch bedeutet nicht, dass das Opfer die Unwahrheit gesagt hat, sondern dass das Gericht die Schuld nicht zweifelsfrei als erwiesen ansieht. Aber liegt das vielleicht auch daran, dass es zu wenig Ressourcen oder Bereitschaft gibt, die Wahrheit zu ergründen?

Wer mit Opferanwältinnen spricht, etwa mit Eva Plaz, erfährt viele Gründe für die strukturellen Probleme: Die Gelder für Prozessbegleitung sind zu gering, Behörden und Beratungsstellen agieren zwar zunehmend professioneller, es fehlen aber Ressourcen. Die auf Legal Gender Studies spezialisierte Universitätsprofessorin Elisabeth Holzleithner erzählt von Forschungsarbeiten an ihrem Institut, die immer noch die mangelnde Schulung von Staatsanwältinnen und Polizistinnen im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt thematisieren. Der Gerichtsmediziner Christian Reiter kritisiert, dass Ärzte und Polizisten bei der Dokumentation von „häuslicher“ Gewalt zu schlampig agieren. Immer noch gibt es keine entsprechenden Erlässe, wie etwa Verletzungen zu fotografieren sind.

Auch deshalb wächst ein Phänomen heran, das Kriminologen „feministischen Digilantismus“ (oder „digitalen Vigilantismus“) nennen. Im positiven Fall ist es eine Art der digitalen Selbstverteidigung und Selbstermächtigung von vernetzten Betroffenen, die sich unter einem Hashtag (etwa #MeToo) dort austauschen und informieren, wo sie der Staat scheinbar oder tatsächlich machtlos zurücklässt – und politische Forderungen erheben.

Foto: APA/AFP/Tobias SCHWARZ

Rammstein-Sänger Lindemann: Betroffene vernetzen sich auf Social Media zur Protestmasse

Im Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann war das gut zu beobachten. Frauen aus ganz Europa hatten sein System der sexuellen Ausbeutung von Mädchen der „Row Zero“ zur Sprache gebracht. Die Behörden allerdings hatten das Verfahren schnell ad acta gelegt. Offiziell weil sich die Frauen nicht zu Aussagen bereit erklärten oder die von ihnen als übergriffig oder gewaltsam geschilderten Erlebnisse nicht strafbar waren. Die Schnelligkeit des Verfahrens irritierte ebenso wie die Interpretation der Rammstein-Fans, wonach die Einstellung des Verfahrens automatisch bedeute, die Frauen hätten gelogen.

Was für Betroffene befreiend sein kann, die Selbstermächtigung, alarmiert indes jene, die Angst vor einem Rückfall in archaische Zeiten oder dem Lynchmob haben. Denn rote Linien sind schnell überschritten. Wachsamkeit, Vigilanz, kann in Lynchjustiz, Vigilantismus, kippen.

Nur ein paar Tage vor dem Prozess gegen Teichtmeister war das auf Twitter in einer besonders krassen Form zu beobachten. Auf einer anonymen Website wurde von anonymen Frauen ein bekannter Linksaktivist und Journalist mit vollem Namen als „Täter“ und Vergewaltiger geoutet. Seit über 20 Jahren habe er Frauen und Mädchen missbraucht und vergewaltigt, so die anonym vorgetragene und im Detail nicht näher ausgeführte Anklage.

Bis heute ist nicht klar, wer den Aufruf geschrieben hat. Die Opfer? Oder ihre Fürsprecherinnen? Zwei Frauen traten mit dem Falter in Kontakt, belasteten den Journalisten, zeigten den Aktivisten jedoch nicht bei den Behörden an und wollen auch sonst nicht medial in Erscheinung treten „aus Angst vor Repression“, wie eine erzählt, „aber auch aus der Sorge, von staatlichen Organen nicht ernst genommen zu werden“ oder mit intimen Details in den sozialen Medien vorzukommen.

Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Statt beim Staat Hilfe zu suchen, wurde das Urteil der Betroffenen daher per Internet selbst verkündet und von unzähligen Usern schneeballartig verbreitet – zum Schutze potenzieller Opfer, wie es zur Rechtfertigung hieß. Der namentlich genannte Journalist sollte sich „aus der linken Szene zurückziehen“, forderten die Verfasserinnen, ja nicht einmal Demonstrationen sollte er noch besuchen dürfen. Der hunderttausendfach geteilte Appell schloss mit der Forderung: „Sei solidarisch und widersprich, wenn die Versionen des Täters rumerzählt werden!“

Medienstrafrechtlich ist diese Form des feministischen Aktivismus klar verboten. Aber sanktioniert wird dieses digitale Faustrecht nur, wenn sich der Betroffene auf eigene Kosten dagegen wehrt. Ehrenstrafrecht ist Privatsache. Er muss also vor Gericht treten, die anonymen Betroffenen ausforschen, privat anklagen und verklagen und jahrelange Prozesse führen, auch gegen Social-Media-Firmen, die langsam reagieren. Das Dilemma des Betroffenen: Je mehr er den anonymen Vorwürfen widerspricht, desto stärker verbreiten sie sich. So funktioniert die von Algorithmen gesteuerte Social-Media-Logik.

Das Verstörende am Fall des Journalisten ist nicht nur der Umstand, dass ihn Betroffene öffentlich und anonym beschuldigen, ehe sie eine Anzeige zumindest versuchen. Sondern auch, wie schnell sein sozialer Tod auch in jenen Kreisen exekutiert wird, die sonst den Rechtsstaat hochhalten.

Kollegen beendeten via Twitter demonstrativ die Zusammenarbeit. Ein prominenter Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Forschungsstelle twitterte, er sehe „keinen Grund“, an den „Schilderungen der Betroffenen“ zu zweifeln, und erklärte sich mit ihren Wünschen „solidarisch“. Er kündigte dem Aktivisten die Zusammenarbeit bei Recherchen in der rechtsextremen Szene auf, allerdings nicht am Telefon, sondern öffentlich, offenbar auch als solidarische Geste.

Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Grüne Frauensprecherin Meri Disoski: „Danke für Euren Mut!“

Auch die grüne Frauensprecherin Meri Disoski unterstützte die anonym auftretenden Frauen demonstrativ. „Volle Solidarität mit allen Betroffenen und danke für euren Mut!“

Was in der Debatte irritiert: Durch die Solidaritäts-Schwärme wird auch das Narrativ verbreitet, dass Frauen in der „patriarchalen Justiz“ per se keine Chance auf ein faires Verfahren hätten, dass es also sinnlos sei, den Staat überhaupt zu bemühen, dass man deshalb auf eigene Faust handeln müsse. Oft wird das auch stimmen, so generell formuliert entmutigt es Opfer, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Dazu kommt wohl auch eine Art digitaler Selbstherapie. Frauen, so beobachtet die deutsche Kriminologin Kerrin-Sina Arfsten in einem Fachaufsatz über „Digitalen Vigilantismus“ (Springer Verlag), würden sich im Netz nun „wieder als Subjekte behaupten und gleichzeitig eine Kritik an den dahinter liegenden sozial strukturellen Ursachen formulieren“. Arfsten weiter: „Das Bloßstellen und Vorführen der Personen, durch die die Frauen zuvor emotionale und/oder physische Gewalt erfahren haben, erniedrigt oder objektiviert worden sind, soll es ihnen ermöglichen, Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.“

Der deutsche Kolumnist Sascha Lobo ging noch weiter und plädierte schon vor vier Jahren für eine „Social-Media-Notwehr“. Die Kommunikation Betroffener im Netz könne man nicht mit Strafverfahren vergleichen. Lobo: „Ich denke, wir alle sind uns darin einig, das Patriarchat so schnell wie möglich zu zerschlagen, aber bis es so weit ist, (...) darf man als Privatperson Missetaten anderer gegen sich oder Menschen im persönlichen Umfeld in sozialen Medien veröffentlichen.“

Und die Grenze zu Pranger, Mobbing und Rufmord? Lobo glaubt, die sei „im Zweifel (gerichtliche) Abwägungssache, ungefähr so, wie auch die Grenze zwischen Notwehr und Notwehr-Exzess Abwägungssache ist“. Möglichem Missbrauch könne ja „etwas entgegengesetzt werden“.

Doch das ist oft wirkungslos. Im Netz ist die Strafe in dem Moment vollzogen, in dem die Anklage erhoben wird. Digitaler Vigilantismus, wie wir ihn im Fall des linken Journalisten sehen, „ist und bleibt ein Pranger“, sagt der forensische Psychiater Patrick Frottier. Und das ist kein zivilisatorischer Fortschritt, im Gegenteil.

Erst ein streng formalisiertes System bestehend aus Anklage, Verteidigung, unabhängigem Gericht, Unschuldsvermutung, Berufung, Verjährung und letztlich der Tilgung garantiert den fairen Prozess und den Schutz Unschuldiger, also von uns allen. Die grundrechtliche Festschreibung dieses fair trial auch zwischen Privatpersonen ist die Antwort auf eine Menschheitsgeschichte, die von Blutrache, Denunziation, Lynchjustiz und der Hinrichtung Unschuldiger erzählt.

Der Mob mit dem Galgen, der Verteidiger mit den Boxern im Gerichtssaal, die Opfer mit ihren hehren Anliegen und wohlmeinenden Fürsprechern, die digitalen Steinigungen, weil angeblich der Staat versage. Wo ist der Ausweg aus dem Dilemma?

Der Rechtsstaat, so regt Kriminologin Arfsten an, müsse „seine eigene Sichtbarkeit und Präsenz im Netz erhöhen“, um Tendenzen der Selbstjustiz präventiv entgegenzutreten. Er müsse eine Grenze ziehen zwischen Wachsamkeit gegenüber Unrecht und Lynchstimmung. Die Vertreter der Justiz müssten widersprechen. Sie müssten mit Kriminalstatistiken dagegenhalten, aufklären, erklären und Kritik ernst nehmen. So wie es etwa Patrick Frottier vergangene Woche in der ZiB2 in einem exzellenten Interview mit Armin Wolf getan hat, in dem er aufklärte, warum der Fall Teichtmeister kein Skandal ist. Persönlichkeiten wie er, aber auch Gerichtspressestellen müssten die Diskussion suchen, gegebenenfalls den Streit führen – auch in den sozialen Medien.

Leicht wird das nicht.

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