Im Namen der Freiheit
Wie lassen sich Medien aus der politischen Vereinnahmung befreien? In Wien muss das Verfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit des ORF-Stiftungsrates entscheiden. Brüssel plant ein neues Medienfreiheitsgesetz. Beides könnte helfen

Wo ist die Medienfreiheit am stärksten gefährdet? In Ungarn und Slowenien sind öffentlich-rechtliche Sender am stärksten in ihrer Unabhängigkeit bedroht (Balkengrafik). Die Europakarte zeigt, in welchen Ländern die redaktionelle Vielfalt leidet Quelle: Zentrum für Medienpluralismus und Medienfreiheit, Europäisches Universitätsinstitut Florenz. Befragung von Fachleuten, gewertet wurden Transparenz der Medieneigentümerschaft, Pluralität der Medienanbieter, Pluralität auf den digitalen Märkten, ökonomische Stärke der Medien und redaktionelle Unabhängigkeit von kommerziellem und Eigentümereinfluss (Illustration: Oliver Hofmann)
Der Dreiteiler sitzt wie angegossen, seine Argumente vor Gericht auch. Im Kalender von Florian Philapitsch ist der 26. September 2023 rot angestrichen. An diesem Tag wird der Chef des burgenländischen Verfassungsdienstes vielleicht mithelfen, österreichische Mediengeschichte zu schreiben. Um zehn Uhr hat er seinen großen Auftritt im Verfassungsgerichtshof in Wien. Dann nämlich, wenn die Höchstrichter zu ihrer öffentlichen Verhandlung zum ORF-Gesetz laden.
Das ist für sich schon ungewöhnlich, denn coram publico agieren die Höchstrichter nur dann, wenn es um gesellschaftspolitisch besonders brisante Themen geht. Die Sterbehilfe, das Kopftuchverbot, die Cofag-Malversationen, sie alle wurden so abgehandelt. Und nun also das ORF-Gesetz, das den Hütern der Verfassung offensichtlich als genauso wichtig erscheint.
Es geht an diesem Tag um viel. Philapitsch handelt im Auftrag des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Peter Doskozil (SPÖ), und der will nichts Geringeres als den Regierungseinfluss auf den ORF brechen. Die zentrale Frage dabei ist: Werden die beiden Aufsichtsgremien des Senders, der Stiftungs- und der Publikumsrat, tatsächlich, wie in der Verfassung vorgesehen, „regierungsfern“ bestellt, oder ist er nicht doch fest in parteipolitischer, aktuell vor allem türkiser Hand? Ist der ORF noch unabhängig genug, um die Politik zu kontrollieren, oder ist es schon umgekehrt, kontrolliert die Politik den ORF?
Auf 44 Seiten hat Philapitsch den Verdacht des Landeshauptmanns in schönstes Juristendeutsch gegossen und einen „Antrag auf Normenkontrolle“ an den Verfassungsgerichtshof verfasst. Umgangssprachlich ist das so viel wie eine Beschwerde mit Bitte um Prüfung. „Die Normenkontrolle ist wie das Immunsystem unseres Rechtsstaates“, schwärmt Philapitsch. Hier zeigt der Föderalismus eine seiner guten Seiten, weil Länder dem Bund als Gesetzgeber auf die Finger klopfen können. Kommen die Höchstrichter nach der öffentlichen Verhandlung Ende September zum Schluss, dass Philapitsch mit seinen Argumenten recht hat, muss die Regierung das ORF-Gesetz ändern.

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Verfassungsexperte Philapitsch verfasste die Beschwerde des Landes Burgenland gegen das ORF-Gesetz

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Medienministerin Susanne Raab (ÖVP) bremst beim EU-Medienfreiheitsgesetz
Das Timing könnte nicht besser sein. Denn nicht nur in Wien, auch in Brüssel ist Medienfreiheit derzeit ein großes Thema. Vergangenen Donnerstag gab der Kulturausschuss des Parlaments grünes Licht für den European Media Freedom Act (EMFA).
Er soll die Medienfreiheit in Europas Staaten besser absichern und Redaktionen vor Einflussnahme schützen. Durch Regierungen – was angesichts autokratischer Staaten wie Ungarn und Polen nachvollziehbar erscheint. Und durch Eigentümer, zum Beispiel Oligarchen und Industriemagnaten, die Medienhäuser übernehmen und damit vielleicht eher presseferne Eigeninteressen verfolgen.
Medienschaffende sollen gegenüber ihren Eigentümern gestärkt werden, und politischer Einfluss soll zurückgedrängt werden. Anlassfälle gibt es genug. In Italien hat die rechtspopulistische Regierung unter Giorgia Meloni alle Führungspositionen des staatlichen Fernseh- und Rundfunksenders Rai mit eigenen Gefolgsleuten besetzt, um das Programm auf Linie zu bringen. Einen radikalen Regimewechsel erlebten auch die Journalisten beim Journal du Dimanche, Frankreichs führender Sonntagszeitung. Dort übernahm im Frühjahr der Milliardär Vincent Bolloré die Regie, nachdem dessen Medienkonzern Vivendi die Erlaubnis erhalten hatte, den Lagardère-Verlag und dessen Medien zu kaufen, darunter auch das Journal. Bolloré bestreitet öffentlich jegliches politische Interesse.
Doch wie zuvor schon nach der Übernahme des Fernsehsenders CNews im Jahr 2016 und des Magazins Paris Match im vergangenen Jahr folgt der Übernahme auch beim Journal eine scharfe Wende der redaktionellen Ausrichtung nach rechts außen.
Die EU-Kommission will dagegenhalten. Etwa mit strengen Offenlegungspflichten bei Medienunternehmern, was die „direkten oder indirekten Eigentümer“ und die „tatsächlichen oder potenziellen Interessenkonflikte“ betrifft. Das könnte in Österreich für Exxpress relevant sein, dessen Eigentümer teilweise in einer liechtensteinischen Stiftung versteckt sind.
Geplant ist auch eine eigene EU-Medienbehörde, die aber die nationalen Medienaufsichtsstellen – in Österreich wäre das die Komm Austria – nicht ersetzen soll, sondern verstärken. Außerdem sollen Verleger in ihren Medien zwar „redaktionelle Linien etablieren“ dürfen – ansonsten aber nicht über Inhalte entscheiden. Vor allem deutschsprachige Verlegerverbände wehren sich gegen diese, wie sie es sehen, „Eingriffe in die Freiheit privater Medienunternehmen“. Deutschland, Ungarn, Polen und Österreich gehörten zu den Bremsern in Brüssel.
Aber das Brüsseler Medienfreiheitsgesetz ist auf dem Weg in die Verhandlungen mit dem Rat und der Kommission, und das ist nicht nur für unabhängige, kritische Redaktionen in Ungarn, Polen oder Slowenien eine gute Nachricht.
Sondern auch für Österreich. Denn Brüssel will, dass alle öffentlich-rechtlichen Medien nicht nur „angemessene und stabile finanzielle Mittel“ zur Verfügung haben, sondern dass auch die Mitglieder in den Aufsichtsgremien nach „transparenten, objektiven, nichtdiskriminierenden und verhältnismäßigen Kriterien“ ausgewählt werden.
Ob das für den ORF-Stiftungsrat zutrifft, ist mehr als zweifelhaft.
Kurze Rückblende in den Februar 2022. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler machte damals etwas Ungewöhnliches – er lud zu einer Pressekonferenz, um eine Geheimabsprache zwischen ihm und Kanzler Sebastian Kurz öffentlich zu machen: einen sogenannten „Sideletter“. Seine Mitarbeiter verteilten das Papier an die staunenden Medienvertreter. Die Grünen hatten sich bei den Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP nicht nur das „Vorschlagsrecht für den Stiftungsratsvorsitzenden, wenn dieser zur Wahl steht“, gesichert. Sie hatten sich auch das künftige ORF-Direktorium ausgeschnapst, im Verhältnis drei zu zwei für die ÖVP.
Auch in der türkis-blauen Regierung davor hatten sich Kurz und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache den ORF knallhart aufgeteilt. Sie paktierten Posten und die Abschaffung der Gebührenfinanzierung. Stattdessen sollte der ORF aus dem Budget dotiert werden. Stiftungsrat, Geschäftsführung, die Namen leitender Redakteure: Alles war zwischen FPÖ und ÖVP im Jahr 2017 schon fix und fertig ausgehandelt, als gehörte der Rundfunk nicht dem Volk, sondern diesen beiden Parteien. Im Stiftungsrat lautete die türkis-blaue Formel 4:4:1, vier Mitglieder für jede Seite plus der Vorsitz für die ÖVP. Für die „Geschäftsführung bei gesamter Neubestellung“ hieß es wortwörtlich: „3:2 (GD +2 VP, 2 FP)“. Demnach sollte der türkis-blaue ORF vier Direktoren haben, je zwei pro Partei, der Generaldirektor aber ein „Dirimierungsrecht“ bekommen: Bei Gleichstand hätte seine Stimme entschieden.
Wenn sich Parteien den ORF so aufteilen können, dann muss das Gesetz, das so etwas derzeit ermöglicht, wohl falsch seinVerfassungs- und Medienexperte Florian Philapitsch
„Das war der Moment, in dem Doskozil beschloss, den Verfassungsgerichtshof einzuschalten“, sagt Philapitsch. „Denn wenn sich Parteien den ORF so aufteilen können, dann muss das Gesetz, das so etwas derzeit ermöglicht, wohl falsch sein.“
Eigentlich sollte der Stiftungsrat dem Unternehmen gegenüber loyal sein. Aber 24 der 35 Mitglieder werden durch Regierung, Parteien oder die Länder bestellt, 30 von ihnen sind politisch zuordenbar und haben sich in türkisen, blauen, roten und grünen „Freundeskreisen“ organisiert. So kommt es, dass dem höchsten Entscheidungsgremium des laut Gesetz unabhängigen und weisungsfreien ORF regelmäßig ehemals hohe Parteifunktionäre vorsitzen – sei das zuletzt Ex-FPÖ-Chef Norbert Steger oder aktuell der frühere Bundesparteisekretär der Grünen, Lothar Lockl. Noch bedenklicher ist, dass derzeit 16 der 30 Stiftungsräte der ÖVP zuzuordnen sind. Es gibt also eine klare türkise Übermacht im wichtigsten Verwaltungsgremium des ORF.
„Der Antrag des Landes Burgenland ist juristisch sehr ausführlich, wohlbegründet und außerdem hervorragend formuliert. Ich gehe davon aus, dass der Verfassungsgerichtshof der Regierung eine Reform aufträgt“, meint Medienexperte Peter Plaikner, der die Vorgänge in Wien und Brüssel besonders genau verfolgt und in seinen Kolumnen, die er für verschiedene Blätter schreibt, kommentiert. Von Regierungsseite gibt es dazu kaum öffentliche Statements, mit Medienpolitik wollte in Österreich noch nie jemand auffallen, denn da müsste man sich ja mit den mächtigen Verlegerfamilien anlegen.
Im Höchstgericht gibt es – anders als in manchen Parteizentralen – ganz offensichtlich ein Bewusstsein dafür, dass ein starker, unabhängiger, von Bürgerinnen und Bürgern finanziell getragener ORF Garant für eine funktionierende Demokratie ist.
Schon in seinem Erkenntnis zur Neugestaltung der ORF-Finanzierung betonten die Verfassungsrichterinnen und -richter ausdrücklich die „staatliche Finanzierungsgarantie“ für den ORF „zur Wahrnehmung seiner besonderen demokratischen und kulturellen Aufgabe“.
Richtungsweisender könnte ein anderes internationales Beispiel sein: Das ZDF in Deutschland musste schon vor zehn Jahren nach einem Normenkontrollverfahren vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht seine Gremien reformieren. Rheinland-Pfalz und Hamburg hatten das Verfahren eingeleitet, weil mehr als 40 Prozent der Mitglieder des Fernsehrats „Staatsvertreter“ seien, die sich wie in Österreich in Freundeskreisen organisierten.
Die Kritik war also die gleiche wie beim ORF: zu viel Politikeinfluss, zu wenig Unabhängigkeit. Jetzt gibt es einen Verwaltungsrat mit zwölf Mitgliedern und einen Fernsehrat mit 60 Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. NGOs, Gewerkschaften, Kirchen, aber auch Länder und der Bund. „Es gibt zwei große Unterschiede bei den Besetzungen zwischen ORF und ZDF“, sagt der österreichische Wissenschaftler Leonhard Dobusch, eines von zwölf Mitgliedern im ZDF-Verwaltungsrat. „Erstens ist die Wahl des oder der Vorsitzenden geheim. Zweitens brauchen der ZDF-Intendant oder die ZDF-Intendantin wie auch die Verwaltungsratsmitglieder eine Drei-Fünftel-Mehrheit bei den 60 Fernsehratsmitgliedern.“ Dadurch sei es kaum möglich, politischen Druck auf einzelne Fernsehratsmitglieder auszuüben, und es braucht einen breiten Konsens über die neue Intendanz. Im ORF reicht hingegen eine einfache Mehrheit im Stiftungsrat zur Wahl des Chefs.
Wie der Zufall es will, ist Verfassungsgerichtshofspräsident Christoph Grabenwarter selbst ein renommierter Medienrechtsexperte, der zum Thema Staatseinfluss auf öffentliche Rundfunkunternehmen publiziert hat. Für Amüsement unter Paragrafenauskennern sorgt seit Monaten, dass Philapitsch in seiner Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ausgerechnet einen Fachbeitrag Grabenwarters zur Staatsferne der deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten aus dem Jahr 2018 zitiert: „Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Artikel 10 EMRK verletzt“, also der Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention über die Freiheit der Meinungsäußerung. Das Zitat bezog sich allerdings auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Besetzung der Rundfunkgremien in Moldawien, nicht in Österreich.
Mitarbeit: SIGRID MELCHIOR, HARALD SCHUMANN
Hinweis: Im Artikel wurden Änderungen vorgenommen.