Björk: Sanfte Eisprinzessin, beseelter Cyborg und verwegene Königin des Pop

Die isländische Ausnahmekünstlerin Björk kommt nach einem Vierteljahrhundert wieder nach Wien. Zur Einstimmung aufs Konzert: ihre Biografie in 20 Liedern

FALTER:Woche, FALTER:Woche 37/2023 vom 15.09.2023

Björks aktuelle Show ist mehr Multimedia- Spektakel als klassisches Popkonzert (Foto: Santiago Felipe)

Björks Erfolg dürfte es eigentlich gar nicht geben. Die Karriere der isländischen Musikerin ist ein positiver popkultureller Super-GAU: der größte anzunehmende Ausnahmefall. Die am 21. November 1965 als Björk Guðmundsdóttir in Reykjavík geborene Künstlerin wurde zum globalen Popstar, ohne Popmusik im engeren Sinne zu machen.

Sie ist spröde, kunstsinnig, eigenwillig; pendelt bevorzugt zwischen schroffer Electronica und zeitgenössischer Klassik und vermag mit ihrer Stimme Glas zu schneiden. Und doch wird die Stadthalle voll sein, wenn Björk am 19. September erstmals seit 1998 in Wien auftritt.

Islands bekanntester Kulturexport ist ein lebender Widerspruch. Naturverbundenheit und die Liebe zur Technologie, Emotion und Intellekt, Ordnung und Chaos, entrücktes Fabelwesen und toughe Künstlerperson. Gewissermaßen wurden der Sängerin diese Gegensätze in die Wiege gelegt: Ihre Eltern haben sich kurz nach Björks Geburt getrennt. Die Mutter ein Hippie-Freigeist, der lieber in einer Künstler-WG als in der Kleinfamilie lebte, der Vater ein vergleichsweise biederer Handwerker.

Beide prägten ihre Tochter: Die Mutter ließ sie den Kopf in die Wolken stecken, der Vater achtete auf die Bodenhaftung. Als Kind wollte Björk einmal nicht zur Schule gehen. Sie werde das Bett nicht verlassen, erklärte sie. Darauf schnitt die Mutter drei Löcher ins Leintuch, eines für den Kopf, zwei für die Arme, und schickte die Tochter so los: „Du musst das Bett nicht verlassen, es bleibt bei dir.“

Wiener Stadthalle, 19.9., 19.30 (Restkarten ​​​​​​​erhältlich)

Diese lustvolle Anarchie prägt Björks Musik, die nur ein Gesetz kennt: keine Wiederholungen! Bleiben andere bei erprobten Formeln, sucht sie stets neue Themen, Herausforderungen und Ausdrucksformen. Manchmal verhebt sich Björk, dann wieder glückt ihr Großes wie das aktuelle Album „Fossora“, eine abenteuerliche Studie zum Thema „Mensch und Natur“.

Ihre Auftritte haben ebenfalls wenig gemein mit konventionellen Konzerten. Die Sängerin führt konzeptuell streng choreografierte Multimedia-Shows auf, in denen sie – wie aktuell – schon einmal in einer überdimensionalen Bienenwabe verschwindet. Zur Einstimmung auf das Wien-Gastspiel: ein Mixtape als Annäherung an die 57-jährige Ausnahmekünstlerin.

Schon mit vier glaubten die Leute, ich sei ein Sonderling. Mir wurde klar, dass ich mein Leben entweder nach ihren Regeln ausrichten und unglücklich werden könnte – oder dass ich einfach tue, was mir passt
Björk

1 Jóhannes Kjarval (1977)

1977 nahm Björk Guðmundsdóttir elfjährig ihr erstes Album auf, schlicht „Björk“ betitelt; die Mama hatte Kontakte. Kinder- und Weihnachtslieder solle sie singen, fand der Produzent. Sicher nicht, erklärte der kleine Sturschädel, brachte eigene Vorstellungen mit ins Studio – und zum Drüberstreuen dieses selbst komponierte Kleinod für Flöte und Klavier. Weitere Highlights des Albums, das unter Freunden heute 1000 Euro kostet: „Arabadrengurinn“, ein flottes Stück Discopop mit Sitareinsatz, und „Álfur Út Úr Hól“, Björks liebliche Version des Beatles-Klassikers „The Fool on the Hill“.

2 Lok-Lað (1982)

Mit 13, 14 trommelte Björk in der Girl-Punkband Spit & Not, dann wurde sie Sängerin bei den Postpunks Tappi Tíkarrass, die 1982 mit einem forschen Minialbum debütierten. Der zackige Zweiminüter „Lok-Lað“ ging durch die düstere Schule britischer Bands wie Joy Division, nur waren Björk und Co besser gelaunt. Die Stimme ist bereits kräftig und intensiv, wird aber noch eher konventionell eingesetzt.

3 Anna (1984)

Nächste Station: der Poesie und Dilettantismus einende Anarcho-Pop-Freundeskreis K.U.K.L., ideologisch dem Punk verbunden, ästhetisch eher schräg gelegter Grob-Pop. Den Gesang teilte sich Björk mit Einar Ørn, wie später bei den Sugarcubes. Ihre zwei Alben haben K.U.K.L. beim Label der britischen Anarchopunkband Crass veröffentlicht. Im Video zu „Anna“ vom Debüt „The Eye“ kollidieren gespenstische Momente mit einer beherzt dagegen ansingenden Björk im Brautkleid. „Open the Window And Let the Spirit Fly Free“, ein anderer Titel dieses Albums, könnte als Sinnspruch ihren Herrgottswinkel zieren.

4 Birthday (1987)

Aus K.U.K.L. gingen die Sugarcubes hervor. Der Plan: mehr Pop, mehr Spaß; alles kann, nichts muss. Dann aber stürzte sich die britische Poppresse auf den unkonventionellen Haufen. Der Spaß blieb auf der Strecke, die bis dato erfolgreichste Popband Islands trennte sich 1992 in Freundschaft. Ein schönes Beispiel für den aufgeweckten Eigensinn der Band ist diese frühe Single.

Unter falter.at/bjoerk finden Sie eine Playlist der hier vorgestellten Lieder: Björk für Anfängerinnen und Fortgeschrittene​​

5 Gling-Gló (1990)

1990 war Björk mit den Sugarcubes bereits international etabliert. Aus einer Laune heraus spielte sie an wenigen Tagen mit einem akustischen isländischen Jazztrio (Klavier, Bass, Schlagzeug) ein traditionelles Jazzalbum ein, „Gling-Gló“. Das gleichnamige Stück eröffnet eine Platte, die vermutlich kaum gehört im Easy-Listening-Fach verschwunden wäre, gäbe es da nicht diese ausdrucksstarke, raumgreifende Stimme.

6 Human Behaviour (1993)

„If you ever get close to a human / And human behaviour / Be ready, be ready to get confused“: So eröffnete Björk im Juli 1993 ihr erstes Soloalbum seit der Kinderplatte, die einst nur in Island erschienen war. Sie nannte es kurzerhand „Debut“. Reykjavík hatte die Künstlerin gegen London eingetauscht, Gitarren weithin gestrichen, stattdessen Einflüsse der urbanen Clubkultur reingeholt – und doch Platz gelassen für kunstliedartige Schwelgereien mit akustischen Arrangements. Nelle Hopper, eine Größe jener Zeit, half bei der Produktion; die kreativen Fäden hielt Björk freilich alle selbst in der Hand.

7 Violently Happy (1993)

Die Stadt ist zu klein für ihre großen Gefühle als frisch Verliebte, heißt es im offensichtlichsten Dance-Stück von „Debut“. Nur: Der Partner ist nicht da. Die Sehnsucht quält, also schleicht die Sängerin zum Ozean, lässt sich anbrüllen – und brüllt zurück. Anschließend sitzt sie im Auto und fährt zu schnell, die Musik laut aufgedreht. Das Wechselspiel von Natur und Technik sollte Björks weiteres Werk prägen, die Intensität der ausgestellten Gefühle ebenfalls – umgesetzt mit dem wichtigsten Instrument, über das sie verfügt: ihre Stimme.

8 Army Of Me (1995)

„Debut“ machte Björk zu einer der bekanntesten weiblichen Pop-Stimmen der 1990er, der Nachfolger „Post“ festigte diesen Status. Er schreibt den Sound des Vorgängers behutsam fort und hat eine gewisse Tendenz zum Dickauftragen. Wie hier: wuchtige Beats, sinfonische Klänge und eine Frau, die nichts hält von falscher Freundlichkeit: „And if you complain once more / You’ll meet an army of me.“

9 Hyper-Ballad (1995)

Ein zartes Glücksbekenntnis, das dann Fahrt aufnimmt, angetrieben von Beats die reine Ballade hinter sich lässt, um schließlich wieder leise zu werden. Frei von Vokalaction und Klangstörgewittern, zählt „Hyper-Ballad“ zu den konventionelleren von Björks Liedern – und zu den allerschönsten.

10 The Modern Things (1995)

Eine bezaubernde Sonderbarkeit, musikalisch (Ballade mit Momenten gepflegter Zerfaserung), gesanglich (spielt viele Stückerl, zuckt aber nie ganz aus) und inhaltlich: All die modernen Dinge seien immer schon da gewesen, erklärt Björk, sie haben nur in einem Berg auf den richtigen Moment gewartet und dem verwirrenden Geplapper von Menschen und Dinosauriern gelauscht. Und dann … wechselt sie ins Isländische. Wucki und wunderbar zugleich.

11 Jóga (1997)

„Homogenic“ komplettierte die Trilogie famoser Nineties-Alben und wies den Weg in eine kunstige Zukunft: In Spanien mit üppigen Streichern aufgenommen, wird das Albumganze langsam, aber sicher wichtiger als einzelne Songs. Und doch finden sich Highlights: das bedrohliche „Hunter“ etwa, die Trip-Hop-Schwelgerei „Bachelorette“, das mit viel Feenstaub versehene „All Is Full Of Love“ – und allen voran „Jóga“, eine hochemotionale Ballade, in der schroffe Elektronik wunderbar mit dem epischen Orchesterarrangement harmoniert.

12 I’ve Seen It All (2000)

Für „Dancer in the Dark“ betrat Björk die Welt der Schauspielerei – und ließ sich vom misogynen Ungustl Lars von Trier quälen. Das Ergebnis: ein nur schwer erträglicher Film mit einer fantastischen Hauptdarstellerin, der man ständig „Wehr dich doch endlich!“ zurufen möchte. Die Neo-Schauspielerin hat auch den Soundtrack geliefert, den Hit daraus singt sie im Duett mit Thom Yorke von Radiohead.

13 Hidden Place (2001)

Das Album „Vespertine“ eröffnete das neue Jahrtausend 2001 nicht mit Karacho, sondern mit Introvertiertheit und Freude am Klingklang. Weit mehr isländische Naturschönheit denn urbanes Pulsieren also. „Hidden Place“, nicht ganz so in sich gekehrt, baut die Brücke zur 1990er-Björk.

14 Who Is It (2004)

„Vespertine“ war ungewöhnlich? Es geht noch ungewöhnlicher! Ihr fünftes Album „Medúlla“ hat Björk nahezu ausschließlich a cappella aufgenommen, mit Chören, modulierten Stimmen, Human Beatbox und Musik, die aus Körperklängen entstand. „Where Is The Line“ lautet ein Songtitel. Gute Frage. Und doch ist zwischen den weltzugewandten Songs „Pleasure Is All Mine“ und „Triumph Of a Heart“ (Auftakt- und Schlussstück) kaum Platz für Manierismen. Die Single „Who Is It“ (Untertitel: „Carry My Joy On The Left, Carry My Pain On The Right“) klang sogar fast konventionell. Björk-konventionell, versteht sich.

15 Declare Independence (2007)

Schluss mit Leisetreterei: Die Platte „Volta“ feierte 2007 die Buntheit und enthielt diverse Kooperationen. Beats waren ein wichtiges Thema, Globalpop ebenfalls. Nicht alles ging auf, einiges aber strahlt hell. Die elektrisierende Marsch-Tänzelei „Earth Intruders“ etwa, die epische Ballade „The Dull Flame Of Desire“ (mit Antony, heute Anohni) – und als Kontrast dazu diese spröde Elektropunk-Wutrede: „Declare Independence, don’t let them do that to you!“

16 Crystalline – Omar Souleyman Remix (2011)

Bei „Biophilia“ wurde Björks Fortschrittsglaube 2011 zum Problem: Halb Album, halb interaktive App hat sich das Konzept wohl nur der Musikerin selbst gänzlich erschlossen. Der stilvoll hyperaktive „Crystalline“-Remix des irgendwann von der westlichen Techno-Community lieb gewonnenen syrischen Hochzeitssängers Omar Souleyman aber ist ein Burner.

17 Stonemilker (2015)

Ihr Trennungsalbum „Vulnicura“ verarbeitete das Ende der langjährigen Beziehung mit dem US-Künstler Matthew Barney in Songs, die auch einmal an der Zehnminutenmarke kratzen dürfen und teilweise mehr Mantren des Schmerzes denn konventionelle Songs sind. Diese aus Trauer geborene Kunst ist kein lautes Wehklagen, sondern stilles Wundenlecken; den elektronischen Unterbau hat Björk gemeinsam mit der venezolanischen Grenzgänger-Produzentenperson Arca geschaffen. Der zarte Einstieg „Stonemilker“ zählt zu den zugänglicheren Momenten der Platte.

18 Tabula Rasa (2017)

„Utopia“ ist das helle, zirpende und tirilierende Gegenstück zu „Vulnicura“. Das Cover zeigt Björk als grotesken Cyborg, die Musik jedoch tönt durchaus humanoid. „Tabula Rasa“ besticht durch Feingliedrigkeit und klare Worte: „Tabula rasa for my children / Let’s clean up / Break the chain of the fuck-ups of the fathers / It is time / For us women to rise, and not just take it lying down.“ Auch schön: Das Schlussstück heißt hoffnungsfroh „Future Forever“.

19 Sorrowful Soil (2022)

Dem ätherischen „Utopia“ folgte mit „Fossora“ aktuell wieder ein Mehr an Kompaktheit (wenn auch nicht unbedingt in diesem Song). Björk inszeniert in zugleich futuristischen und archaischen Jazz-Folk-Avantgarde-Pop-Stücken ein anregendes Wirrwarr inklusive unrhythmischer Rhythmen, Bassklarinetten, Chören und einer für die Aufnahme halb im Erdboden vergrabenen Trommel; sie selbst nennt das Ergebnis „Biological Techno“. Um Pilze geht es, die Isolationserfahrung der Pandemie, das Matriarchat und – besonders berührend – die verstorbene Mutter.

Bonustrack: (I Can’t Get No) Satisfaction (1994)

Im Duo mit ihrer Kollegin PJ Harvey coverte Björk 1994 bei der Verleihung der BRIT-Awards-Musikpreise den Stones-Klassiker. Superreduziert, superintensiv.

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